Der Weg in Die Schatten
Er grinste.
Kylar grinste nicht.
»Die Magier vermuten - sie würden sagen, sie stellen eine Hypothese auf, damit es respektabler klingt -, dass verschiedene Länder verschiedene magische Begabungen hervorbringen und dass das der Grund ist, warum Männer mit bleicher Haut und blauen Augen Hexer werden und dunkelhäutige Männer Gorathi -Krieger sind. Sie sagen, das sei der Grund, warum die einzigen Magier, die sie aus Gandu bekommen, Heiler sind. Sie sehen Männer mit gelber Haut, die heilen können, und vertreten die Auffassung, dass gelbe Haut Heilkunst bedeutet. Aber sie irren sich. Unsere Welt ist geteilt, doch die magische Gabe ist überall dieselbe. Jedes Volk erkennt bestimmte Formen der Magie - bis auf die Lae’knaught, die die Magie hassen und gleichzeitig nicht an sie glauben, aber das ist ein anderes Thema -, doch jedes Volk hat seine eigenen Erwartungen, was Magie betrifft. Gandu hat früher einige der zerstörerischsten Erzmagier hervorgebracht, die es je gab. Das Land hat Gräuel erlebt, die deine Vorstellungskraft übersteigen, und deswegen hat es sich von der Magie als Kampfmittel abgewandt. Die einzige Magie, die dort noch geschätzt wird, ist heilende Magie. Also haben sie mit dem Verstreichen der Jahrhunderte ihre Kenntnis der heilenden Magie beträchtlich gemehrt und viele andere Kenntnisse verloren. Ein Gandu, der eine große magische Gabe für Feuer besitzt, ist eine Schande für sich selbst und seine Familie.«
»Also würden wir nie von ihm erfahren«, bemerkte Kylar.
»Richtig. Es gibt eine Überschneidung zwischen dem, was die Menschen um dich herum gut genug kennen, um es zu unterrichten, dem, worauf du dich von Natur aus gut verstehst, und dem, was zu lernen dir möglich ist. Also ist die Begabung sowohl das, was sie ist, als auch das, was sie sein muss. Wie dein Verstand.«
Kylar sah ihn nur an.
»Betrachte es einmal so: Manche Menschen können im Kopf lange Listen von Zahlen addieren, nicht wahr? Und manche können ein Dutzend Sprachen sprechen. Um das zu tun, müssen sie klug sein, richtig?«
»Richtig.«
»Aber nur weil du lernen kannst, Listen von Zahlen zu addieren, bedeutet das nicht, dass du es tun wirst. Doch eine Frau, die Rechnungsbücher führt und eine Begabung für Zahlen hat, kann es tun. Oder ein Diplomat könnte eine Begabung für Sprachen haben, aber wenn er niemals eine andere Sprache lernt, wird er immer noch nur eine einzige beherrschen.«
Kylar nickte.
»Die Frau mit dem Kopf für Zahlen könnte wahrscheinlich eine weitere Sprache erlernen, wenn sie nur hart genug arbeitete, aber sie wird niemals ein Dutzend Sprachen fließend sprechen, und der Mann wird niemals imstande sein, im Geiste Zahlenkolonnen zu addieren. Verstehst du, worauf ich hinauswill?«
Kylar dachte nach, und Master Blint wartete. »Wir wissen, dass ich magisch begabt bin, aber wir wissen nicht, wie stark und in welche Richtung, daher könnt Ihr nicht sagen, wozu ich imstande sein werde.«
»Richtig«, erwiderte Master Blint. »Da ich dich unterrichte, wirst du definitiv einige Dinge lernen. Du musst dich verstecken? Deine Magie wird das Licht brechen. Du musst dich leise bewegen? Sie wird deine Schritte dämpfen. Aber wie jede Begabung hat auch deine Magie Grenzen. Wenn du in der Mittagssonne umhergehst, wird man dich sehen. Wenn du auf trockene Blätter trittst, wird man dich hören. Du bist magisch begabt; du bist kein Gott. Du könntest die flinkste Zunge auf der Welt haben, aber wenn du den König beschimpfst, wirst du den Henker kennenlernen.«
»Wenn ich zwölf Sprachen beherrsche und Ihr in einer dreizehnten zu mir sprecht, werde ich nicht wissen, was Ihr sagt.«
»Manchmal hörst du tatsächlich zu«, bemerkte Master Blint. »Ich muss jetzt gehen. Graf Drake wird sich um dich kümmern. Er ist ein guter Mann, Kylar. Zu gut. Du kannst ihm dein Leben anvertrauen; nur lass nicht zu, dass er sich über deine Seele hermacht. Und denk immer an dich als Kylar. Azoth ist tot.«
»Tot?« Dieses Wort setzte all die Erinnerungen und Ängste und all die Wut frei, die sich in Kylar aufgebaut hatten, als hätte jemand den Abzug einer gespannten Armbrust betätigt. Es war, als wäre seine Maske plötzlich gefallen, und er war wieder Azoth.
Azoth packte Master Blints Arm. »Ich... ich bin wirklich gest-«
»Nein! Nein, du bist nicht gestorben. Sieht das hier aus wie die Hölle?« Blint machte eine weit ausholende Gebärde, die den ganzen Raum umfasste. »Ha. Und sie würden mich den Himmel
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