Der Weg in die Verbannung
»du siehst diese Waldwiese dort unten, über die der Bach zu Tal fließt. Dort ist ein Wildwechsel, ich habe einen Hirsch gesehen.« Das Gesicht des Jungen leuchtete auf.
Die beiden gingen wieder zu ihren Pferden, die gesoffen hatten und zu weiden begannen. Der Junge pflückte sich Blätter und Gräser und grub Wurzeln aus, um seinen schlimmsten Hunger zu stillen, und der Vater tat das gleiche. Als sie sich kärglich gestärkt hatten, legten sie sich in die Sonne, aber ohne zu schlafen. Der Junge schlug seine Büchse wieder in das Leder ein; es war ein Mädchenkleid aus Elenleder, was er dazu benutzte, sehr schön, in uralten Mustern, rot und blau gestickt. Er selbst hatte gar keine Kleider; das war ihm ungewohnt, denn er war schon zwölf Jahre, aber in der sommerlichen Wärme nicht unangenehm. Die Mädchensachen, die ihm bei der Flucht aus dem Dorf gedient hatten, mochte er auf keinen Fall mehr anziehen, weder die lange Lederhose noch das kimonoförmig geschnittene knielange Kleid.
Die beiden Indianer schauten in den blauen Himmel, aber nicht nur, um zu träumen. Sie hatten einen Adler entdeckt, der sich mit weit ausgebreiteten Schwingen vom Luftzug tragen ließ. Es war, als ob er die Flügel gar nicht rege. Die Sicherheit und die Mühelosigkeit seines Fluges erregten die Bewunderung der beiden stillen Beobachter. Die umgebenden Berge schienen das Revier des mächtigsten der Raubvögel zu sein. Über zwei Stunden schwebte er umher; der Falke war verschwunden.
»Ein Kriegsadler!« sagte der Indianer nach stundenlangem Schweigen zu seinem Sohn.
»Seine Federn sollten dir gehören, Vater.«
»Die Adlerjagd nimmt uns viel Zeit, Harka.«
»Vielleicht werden wir Zeit haben.«
Der Vater lächelte über die Antwort, ebenso kurz und schmerzlich wie das erstemal, als er am Morgen den Jungen weckte. Die beiden blieben den ganzen Tag im Grase liegen, beobachteten alle Flugrichtungen des Adlers, lernten jedes Geräusch des Wassers, jedes windbewegte Gras, jede Blume, jedes summende Insekt, jeden Stein ihrer neuen Umgebung mit Ohren und Augen und Geruchssinn kennen. Des Abends gingen sie wieder gemeinsam zu dem Aussichtspunkt, um Ausschau in die Umgebung und in die weite Ferne zu halten.
Keiner der beiden wollte dem anderen gestehen, daß sein Blick im verschwimmenden Dunst des Horizonts noch etwas anderes suchte als jagdbares Wild oder die Anzeichen der Abenddämmerung. Keiner der beiden wollte sich selbst gestehen, welche Sehnsucht seinen Blick lenkte, als es im Osten zu dunkeln anfing und die Pracht der scheidenden Sonne auch aus dem kleinen Wiesentale wich, um den Schatten Platz zu machen. Aber beide dachten an die Zelte am fernen Pferdebach, an die büffelledernen, spitz zulaufenden Tipi, in denen jetzt die Feuer aufflackerten, von Frauen und Mädchen geschürt und bewacht, in denen es jetzt nach röstenden Büffelrippen und Fleischbrühe duftete, in denen Harkas Schwester und die Mutter seines Vaters Mattotaupa wohnten und um die beiden Verbannten und Geächteten trauerten. Der Knabe sah wieder seine Schwester Uinonah vor sich, so wie er sie im letzten Augenblick seines heimlichen Scheidens gesehen hatte, nachdem sie ihm ihr Festkleid überlassen hatte, damit er unerkannt fliehen konnte. Er sah noch einmal, wie sie die Decke über das Gesicht zog, damit niemand wissen sollte, daß sie weinte.
Sein Vater Mattotaupa berührte ihn leicht an der Schulter, um ihn aus den Gedanken zu wecken, die er ahnte, weil sie auch die seinen waren, und die beiden gingen miteinander zu den Pferden, um die zweite Nacht in der Einsamkeit der Berge zu verbringen. Hier gab es für sie keine Verfolger, aber auch keine Brüder und Freunde. Als sie sich zusammen auf die Büffelhautdecke legten, sagte der Vater: »In der Nacht stehe ich auf und schleiche hinunter zu der Waldblöße, zu der des Morgens der Hirsch kommt, um zu trinken. Ich will ihn jagen.«
»Muß ich bei den Pferden bleiben?« fragte der Junge.
»Die Pferde sind hier sicher. Ich kann den Felspfad sperren, so daß sie überhaupt nicht zu entlaufen vermögen. Und wer sollte sie stehlen?«
»Ich darf also mit dir kommen?«
»Ja.«
Der Junge schlief schnell ein, und es quälten ihn in dieser Nacht keine Träume. Er war in der Vorfreude auf die Hirschjagd eingeschlafen. Als sein Vater ihn um Mitternacht weckte, war es bitterkalt, denn das kleine Tal war hochgelegen. Die Pferde hoben die Köpfe und beobachteten das Tun ihrer Herren. Harka legte das Mädchenkleid zusammen und
Weitere Kostenlose Bücher