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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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zeigen, die Waffen wiederzuholen. Aber der Adler durchschaute die Absicht sofort und packte Speer und Bogen fest. Mattotaupa lachte wieder, aber nicht mit der unbeschwerten Heiterkeit, mit der er in den vergangenen Tagen in dem gemeinsamen Versteck in der Wildnis manchmal gelacht hatte. Die Worte, die Harka zum Adler gesprochen hatte, mußten auch Mattotaupa getroffen und alles wieder in ihm aufgerührt haben, was zur Ruhe gekommen schien.
    »Er gibt dir nichts zurück«, sagte der Vater zu dem Jungen. »Du wirst dir einen neuen Speerschaft suchen, eine neue Spitze schnitzen und einen neuen Bogen krümmen müssen.«
    »Vielleicht auch nicht«, erwiderte Harka hartnäckig. »Der Flügel des Adlers heilt. Er wird bald einmal auffliegen. Dann hole ich mir meine Waffen zurück.«
    »Er wird aus der Höhe beobachten, wie du seinen Horst ausraubst, und auf dich herabstoßen.«
    Diese Voraussage des Vaters klang in Harkas Ohren nicht sehr angenehm. Er entgegnete aber zunächst nichts, sondern sah zu, wie der Adler seine Federn putzte, die Flügelfedern, die Schwanzfedern. Er schien schon in die Mauser zu kommen, denn einzelne Federn zog er sich aus, und sie schwebten herunter auf die Wiese. Harka sammelte die drei Schwanzfedern, die sich darunter befanden, schnell ein. Er bündelte sie, holte auch die drei Federn hervor, die der Grauschimmel dem Adler ausgerissen und die Harka aufbewahrt hatte, und ging dann zu den Pferden. Aus den beiden Federbündeln machte er je ein Gehänge am Zügel für jeden Mustang. Ein Krieger oder einer, der ein Krieger werden wollte ­ wie Harka ­, steckte sich natürlich keine von einem Pferd erbeuteten oder ausgemauserten Adlerfedern ins Haar. Aber als Gehänge für die Pferde mochten diese Federn dienen. Mattotaupa machte keine Bemerkung dazu.
    Harka erwog im stillen, ob es nicht eine angenehme Abwechslung für ihn wäre, zum Wald und zu der Schutthalde hinunterzusteigen und sich das Material für neue Waffen zu holen. Er konnte den Vater beim Wort nehmen. Mattotaupa mußte ihm dieses Unternehmen erlauben. Der Vater sagte auch nicht nein.
    So bereitete Harka den ersten Ausflug, den er allein unternehmen wollte, für den nächsten Tag vor. Proviant wollte er mitnehmen, das Messer und seine doppelläufige Büchse mit Munition. Das war rasch zurechtgelegt. Beim ersten Schimmer des kommenden Morgens machte er sich auf denselben Weg, den er zur Hirschjagd mit dem Vater zusammen genommen hatte. Über die Hänge hinab sprang er und kam sehr rasch voran. Sich im Gelände zurechtzufinden, hatte er schon als kleines Kind geübt, und so zögerte er jetzt keinen Augenblick, wie er zu gehen habe. Als er den Wald erreicht hatte, hielt er sich nicht damit auf umherzustreichen, sondern suchte ohne Verzug die Stelle, wo es nach des Vaters Beschreibung Eschen gab. Einen für einen Speer geeigneten Trieb zu finden war nicht einfach. Harka suchte und prüfte gründlich. Als er sich ein passendes Holz geschnitten hatte, warf er es ein paarmal zur Probe wie einen Speer. Ja, das war ein geeigneter Schaft. Oben im Tal konnte er ihn sich vollends zurichten. Der Knabe suchte nun nach Holz für einen neuen Bogen. Elastisch und kräftig mußte es sein. Auch derartiges ließ sich finden. Aber nun kam die Frage, ob er im Bergschutt noch nach einer Steinspitze für den Speer suchen solle. Notwendig war das nicht, denn er konnte sie auch aus Knochen herstellen, ebenso wie die frühere. Aber der Gedanke an die steinerne Messerklinge, die er gefunden hatte, reizte ihn, an derselben Stelle nochmals zu suchen. Dabei trat er aus dem Wald heraus und genoß den freien Blick zum Himmel.
    Hoch oben in den Lüften schwebte ein Vogel. Ein Adler! Harka freute sich darüber. Das Tier hatte seine volle Kraft wiedergefunden. Wie herrlich zog es seine Kreise da oben bei den weißen Wolken! Ob der Adler aufgestiegen war, um seinen Gefährten Harka zu suchen? Der Junge verfolgte den Flug des Adlers mit den Augen. Das Tier zog südwestlich und stieg immer höher. Aber plötzlich änderte es seine Flugrichtung und strebte mit großer Geschwindigkeit von der Hochebene der Prärie und den Wäldern weg auf geradem Kurs westlich ins Gebirge hinein. Der Vogel entschwand Harkas Gesichtskreis.
    Der Knabe war unschlüssig. Was hatte den Adler aus seinem ruhigen Flug aufgestört? Eine Beute, die ihn westwärts zog, konnte er auf so große Entfernung nicht gesichtet haben. Es zog den Adler nicht irgendwohin, so dachte Harka, sondern er floh von irgendwo

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