Der Weg in die Verbannung
auf die Brust gelegt, hielt den Kopf in die Höhe und ließ sich an der Kehle kraulen. Die Augen zwickte sie zu. Ihr Schweif spielte vor Wohlbehagen. Eben drehte sie einmal den Kopf, weil sie Harka hatte hereinkommen hören. Dabei kam ihr auch Frank Ellis wieder in den Gesichtskreis. Sie fauchte zu ihm hinüber. Was hatte sie für herrliche Zähne, weißglänzend neben der roten langen Zunge! Ihr Fauchen klang nach Urwald und Nacht!
Harka hielt den Kopf ein wenig seitlich und schaute Frank Ellis an, der nicht größer als der Junge war. Sie maßen beide 1,72 Meter. Ellis war bleich und durchscheinend wie Alabaster. Er schien keinen Tropfen Blut mehr in den Wangen zu haben.
»Bleiben Sie nur ganz ruhig stehen, vollständig ruhig, Ellis«, sagte der Dompteur. »Ich würde Ihnen wirklich nicht empfehlen, sich im geringsten zu rühren. Das Tier merkt es sofort und springt Sie an; dann sind Sie verloren, und ich würde zu meinem Leidwesen zu spät kommen, um Sie noch zu retten. Aber wenn Sie stehenbleiben wie eine Salzsäule, geschieht Ihnen gar nichts. Wir können die Zeit nützen. Ich kann Ihnen einiges erzählen! Aber bitte antworten Sie nicht, denn Tigra hat eine Abneigung gegen Ihre Stimme; jedes Wort von Ihnen würde sie zu unvorhergesehenen Handlungen reizen. Ja, was ich Ihnen also sagen wollte: Ich weiß tatsächlich nicht, wer Tigra herausgelassen hat. Ich bin doch nicht somnambul; wenn ich es selbst getan hätte, würde ich mich vermutlich daran erinnern. Jedenfalls ist sie in meinen Wagen gekommen. Das Tier ist intelligent, nicht? Stellen Sie sich vor, es hätte unsere besten Pferde zerrissen, der Schreck wäre nicht auszudenken. Aber sie ist zu mir gekommen. Der ungebändigte bengalische Dschungeltiger als Hauskatze! Es ist einmalig, unwiederholbar, die Sensation der Sensationen! Finden Sie nicht auch? Sie müssen die Tierpsyche besser studieren, Ellis, im Grunde haben Sie von nichts eine Ahnung. Sie wollen, daß die Tiere brüllen, fauchen und die Zähne fletschen, weil Sie damit Geld verdienen, aber warum die Tiere fauchen und was so ein Tier im Schilde führt, das wissen Sie nie. Der Tierverstand fehlt Ihnen vollkommen. Heute morgen zum Beispiel wollte mich das gestreifte Kätzchen wirklich von hinten anfallen und mir den Garaus machen, weil sie sehr ärgerlich war. Das glauben Sie nicht? Darum, weil Sie nichts begreifen, treffen Sie auch immer falsche Entscheidungen. Wie wäre es denn, wollen wir heute abend nicht die Nummer aufführen, die Sie soeben vor Augen haben? Ich garantiere Ihnen vollen Erfolg und trete mit nackter Brust auf. Wie es beliebt, Herr Ellis, wie es beliebt. Noch einen kleinen Rat darf ich hinzufügen! Prügeln Sie den Indianerknaben heute nacht lieber nicht. Lassen Sie ihn auch nicht prügeln, falls Ihr eigener Arm Ihnen sowieso zu schwach dazu erscheint! Machen Sie das nicht. Indianer sind ehrliebend und rachsüchtig, sie sind genauso unberechenbar wie jeder Mensch, und Sie selbst haben ebensowenig Ahnung von einem Indianer wie von einem Tiger, mein Herr. Rühren Sie also den Jungen nicht an. Er schießt Sie sonst eines Tages über den Haufen, und schade würde es ja sein um solch ein Prachtstück von einem Inspizienten, wie Sie es sind, und gerade jetzt, nachdem die Bank alle Einnahmen gepfändet hat! Übrigens trenne ich mich nicht von meinen Tieren. Wenn uns irgendeiner trennen will, dann gibt’s eine Katastrophe. Ich gebe meine Tiere in keine andere Hand. Ich habe sie gezähmt, als sie aus der Freiheit kamen, als sie jung, wild und traurig waren. Wir gehören zusammen, verstehen Sie! Ich war schon lange bei diesem Zirkus hier, ehe Sie Inspizient wurden! Ich bin beim Zirkus aufgewachsen. Aber nun habe ich genug geredet, und ich will mich noch ein bißchen ausruhen. Tigra, mein gestreiftes Kätzchen, mache es dir bequem!«
Harka hörte zu und freute sich über die Maßen, obgleich ihm das Risiko, das Ronald hier einging, gefühlsmäßig klar war. Auch Frank Ellis war ein Raubtier, ein heimtückisches Tier, und einmal mußte Ronald ihn laufen lassen. Töten würde Ronald den Inspizienten nicht.
Draußen mußte man die Situation inzwischen begriffen haben, denn Ronald, der Dompteur, sprach laut genug, um auch vor dem Wagen wenigstens bruchstückweise verstanden zu werden.
»Harry, mein Junge!« sagte er noch, während er sich gähnend streckte. »Ich will dich nicht länger als nötig aufhalten, denn du gehörst hier zu denen, die arbeiten. Du kannst ruhig gehen, Tigra war dir
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