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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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Tiere, trabten los. Der Bart des Kutschers war weiß, kraus, er trug den Backenbart mit offenem Kinn. Die ganze Familie machte nicht den Eindruck von Menschen einer in wildem Tempo wachsenden Handels- und Industriestadt, und als Tante Betty auf der Fahrt entdeckte, daß schon wieder neue Häuser entstanden, sagte sie: »Weißt du, Samuel, ich fühle mich hier im Norden nicht wohl. Ich habe mich hier nie wohl gefühlt. Nachdem ich nun doch allein stehe und der Krieg bald beendet ist, werde ich wohl verkaufen und weiter nach dem Süden ziehen. Der Winter war auch wieder unerträglich kalt.«
    »Wie du meinst, Tante Betty«, antwortete Smith geduldig.
    Die Kutsche hielt vor dem Zirkusgelände. Ein rotlivrierter Diener sprang herbei und half Cate aussteigen, da Smith selbst sich schon um Tante Betty bemühte. Der Rotbefrackte führte die Familie, deren Logenbilletts er in der Hand von Smith erkannte, durch das Menschengewimmel hindurch, an den grellen Plakaten vorbei und geleitete sie durch die Kontrolle, die höflich beiseite trat, zu den Plätzen. Tante Betty war von der Behandlung, die sie hier erfuhr, befriedigt und bemerkte:
    »Ich sagte ja, ein renommierter Zirkus.«
    Die Familie gehörte zu den ersten Zuschauern, die ihre Plätze einnahmen. Die Nachbarloge war noch leer. Tante Betty zog das Lorgnon, betrachtete kritisch die Lampen auf mögliche Feuersgefahr, noch kritischer die anderen Zuschauer, die sich allmählich einfanden.
    »Finleys kommen meistens zu spät«, sagte sie. »Das liegt aber nicht an Ann. Ann ist pünktlich. Aber der Mann! Es ist immer so unangenehm, wenn die Menschen unpünktlich sind. Merke dir das, Cate. Auch dein Vater ist stets die Pünktlichkeit selbst. Du kannst dir ein gutes Beispiel an ihm nehmen.«
    »Gewiß, Tante Betty«, erwiderte Cate artig, aber ihre Gedanken waren ganz woanders. Von überall her drangen die neuen Eindrücke auf sie ein. Hoch oben im Zelt hingen Stangen und Schnüre, deren Verwendungszweck sie nicht kannte. Auf einem Holzgerüst über dem Manegeneingang befand sich die Kapelle und stimmte ihre Instrumente. Die unfertigen Tonfolgen waren gerade der richtige Ausdruck der großen Erwartung auf etwas Unbekanntes, das noch kommen mußte. Rotbefrackte Diener liefen als Platzanweiser umher, hübsche junge Mädchen boten Süßigkeiten an.
    »Kaufe das Zeug bitte nicht, Samuel«, sagte Tante Betty. »Es verdirbt nur die Zähne.«
    »Wie du meinst.«
    Cate spürte mit dem sicheren Instinkt des Kindes, daß ihr Vater nicht willenlos war. Er war es nur müde, über Belanglosigkeiten zu diskutieren. Auch seine Gedanken waren nicht bei Tante Bettys Bemerkungen. Tante Betty aber vermißte den Widerspruch. Sie liebte es, wenn ihr in Grenzen widersprochen wurde und sie dann den anderen kraft ihrer Zungenfertigkeit widerlegen konnte. Ihre gute Laune drohte nachzulassen, als zum Glück Familie Finley in der Nachbarloge Platz nahm.
    »Sitzen wir der Manege nicht allzu nahe?« fragte Herr Finley, ein gesetzter Herr, der seine finanziellen Interessen auf das Mühlengeschäft gelenkt hatte. »Man wird die Tiere und den Schweiß der Artisten riechen, der Manegenstaub wird aufwirbeln. Das kann unangenehm für dich sein, Ann. Du verträgst doch keine staubige Luft. Denke an dein Asthma!«
    Während Herr Finley so sprach, schnitt der junge Douglas, einige Jahre älter als Cate, eine nur von Samuel Smith und Cate bemerkte lustige Grimasse, als ob er Staub einatme und niesen müsse. Das Mädchen lächelte; es hätte gern gekichert, aber das schickte sich in Gegenwart von Tante Betty nicht. Die Tante hatte ein Thema gefunden; sie unterhielt sich mit Herrn Finley über gute und schlechte Plätze im Zirkus, im Theater, in bezug auf Grundstücke und im Leben überhaupt. Herr Finley nahm Tante Betty ernst; sie hatte Geld in einer Mühle investiert, an der er stark interessiert war; ihr geschäftliches und ihr persönliches Wohlwollen pflegten sich zu verquicken.
    Cate und Douglas fieberten. Die Musik spielte den schmissigen Einzugsmarsch, und der Zug der Artisten und Tiere machte die Runde in der Manege. Diese Zirkusparade unter den Klängen der Musik, die mit ihrem Rhythmus durch die Nerven floß, machte auf Cate und Douglas keinen geringeren Eindruck, als sie im vergangenen Herbst auf den Knaben Harka gemacht hatte. Aber die Lieblinge, die Cate und Douglas sofort für sich herausfanden, waren ganz andere. Mit runden Augen starrten die beiden die Kunstreiterin an, die in Ballettrock und Flitter,

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