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Der Weg in die Verbannung

Der Weg in die Verbannung

Titel: Der Weg in die Verbannung Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Liselotte Welskopf-Henrich
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immer gewogen. Du weißt dich auch richtig und ruhig zu bewegen. Aber bitte, Frank Ellis, versuchen Sie nicht etwa, die Gelegenheit zu benutzen und auch durch die Tür zu entweichen. Das würde Ihnen vollständig mißlingen. Sehen Sie, ich bin kein Unmensch. Ich will gar nicht, daß Sie angefallen werden, so wie Sie hier stehen, ohne Kettenhemd, wenn auch nicht mit nackter Brust. Ich meine es gut mit Ihnen! Ich will wirklich weiter nichts, als ein einziges Mal in Ruhe mit Ihnen über meine Angelegenheiten reden, das erste und einzige Mal nach drei Jahren. Sie hatten ja nie Zeit. Meine Heimat ist übrigens nicht Indien, meine Heimat ist die Steiermark. Hübsches Land. Nie davon gehört? Ich erzähle Ihnen noch ein bißchen, damit die Zeit nicht zu lang wird bis zur Vorstellung. Wenn meine Nummer heute abend dran ist, nehme ich Tigra mit und lasse Sie laufen. Das Tier kennt seine Zeit. Aber vor der Vorstellung wird es beim besten Willen nicht von hier wegzubringen sein. Also denn, gehab dich wohl, Harry!«
    Der Junge zog sich, rückwärts gehend, zurück. Als er die Tür weit genug geöffnet hatte, um hinauszuschlüpfen, versuchte Ellis eine Bewegung. Fauchend sprang die Tigerin auf, und der Inspizient erstarrte wieder. Harka wurde draußen vom Direktor, von den Managern der einzelnen Nummern, von Old Bob empfangen; in einiger Entfernung standen die Stallburschen und Helfer.
    »Liegt ein Fall von Irrsinn vor?« fragte der Direktor und wischte sich den Schweiß von der Stirn.
    »Glaube nicht«, berichtete Harka. »Der Raubtierakt wird heute abend ganz neu gespielt. Es geht noch um die Einzelheiten. Wir dürfen nur die Wagentür hier nicht öffnen.«
    »Der Inspizient?«
    »Wird zur Zeit der neuen Raubtiernummer seinen Dienst wieder aufnehmen. Bis dahin müssen Sie eine Vertretung bestimmen!«
    »Gott sei Dank. Der Raubtierakt findet statt! Also ist ja alles in Ordnung.« Der Direktor entfernte sich.
    Old Bob kam zu Harka heran. »Junge, nun sag mir nur noch das eine: Wie ist denn der Ellis da hineingekommen?«
    »Weiß nicht.«
    Ein Stallbursche hatte Frage und Antwort gehört. »Ganz einfach«, erklärte er. »Ronald hat den Kopf aus dem Fensterchen gestreckt und mich gebeten, den Ellis zu rufen. Er wolle wegen der Vorstellung heute abend was ganz Wichtiges mit ihm besprechen. Da ist Ellis hineingegangen! Aber wie Ronald vorher schon die Tigra in den Wagen dirigiert hat, das hat keiner gemerkt.«
    Der Stallbursche drehte sich um, lief in den Stall, warf sich zu einem Pferd in die Box auf den Boden und lachte so, wie er in seinem ganzen Leben noch nicht gelacht hatte. Er konnte überhaupt nicht aufhören. »Der Ellis!« rief er dazwischen immer wieder, »Kinder, das muß dem Ellis passieren!«
    »Doch noch ein Fall von Irrsinn«, meinte Old Bob und schmunzelte, so daß sich seine Mundwinkel bis zu den Ohren zogen. »Auf den Abend heute bin ich neugierig. Das wird unwiederholbar! Wenn der Ellis aber aus dem Wagen lebend wieder ’rauskommt, läuft noch ein Tiger frei umher! Mit zwei Beinen.« Harka entnahm den Worten, daß Old Bob dieselben Besorgnisse hatte wie er selbst.
    Die Nachmittagsvorstellung verlief ohne Zwischenfall. Die Raubtiernummer und der Überfall auf die Postkutsche waren in das Nachmittagsprogramm nicht eingebaut, um den Publikumsandrang auf die Abendvorstellung mit den verdoppelten Preisen zu lenken.
    Als es gegen Abend ging, wurde das kleine Mädchen Cate hübsch angezogen. Sie trug nach der Kindermode der Zeit lange Spitzenhöschen, einen Rock, der bis über die Knie ging, eine Weste und eine Bluse mit weißem gestärktem Kragen. Das Kapotthütchen mit der langen Schleife, die um das Kinn gebunden wurde, lag schon bereit. Das Kind machte jeden Schritt auf den Zehen, um Tante Betty nicht noch im letzten Augenblick unangenehm aufzufallen. Der Vater saß still auf einem seidenbezogenen Stuhl ohne Armlehnen und wartete. Die Tante war noch mit der eigenen Toilette beschäftigt. Sie hatte anspannen lassen; die Kutsche stand schon bereit.
    Obwohl Tante Betty lange für ihre Toilette brauchte, war sie doch frühzeitig fertig. Ihr Herz, sagte sie, vertrage durchaus keine Hast der Vorbereitungen mehr. Es müsse stets alles in Ruhe vor sich gehen, dann bleibe sie gesund. Cate mit ihrer ewigen Unruhe sei ihr Sargnagel. Das letzte allerdings pflegte sie nur dann zu sagen, wenn Samuel Smith es nicht hörte.
    Die kleine Familie nahm in der Kutsche Platz, und die beiden Pferde, ältere, ruhige und sehr gepflegte

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