Der Weg ins Dunkel
müssen uns hier wegführen», sagte Bear und legte Lanso die Hände auf die Schultern. «
Unajua kituo cha
UN
? Kituo cha wazungu kusini mwa ha
?» Kennt ihr die UN -Basis? Wo die weißen Männer wohnen, südlich von hier?
Luca schüttelte den Kopf. «Wir sollten sie da nicht mit hineinziehen. Es ist besser, wenn die Jungen hier bleiben. Die Schweine sind ja nicht hinter ihnen her, sondern hinter uns.»
Bear sah ihn grimmig an. «Was redest du da? Die kriegen uns in weniger als einer Stunde. Diese Jungen können uns den Weg zeigen.»
«Und wenn es sie das Leben kostet?»
«Wenn sie uns aus dem Wald herausführen können, gibt es keinen Grund, auf ihre Hilfe zu verzichten.»
«Aber stell dir bloß vor …», begann Luca.
Bear brachte ihn mit einer Geste zum Schweigen und herrschte ihn an:
«Assez!»
Genug! «Das hier ist nicht der Ort für edle Gesinnung. Hier geht’s ums Überleben, Luca. Sonst nichts.»
Lanso und Abasi waren von dem Streit sichtlich eingeschüchtert. Doch dann griff Lanso nach Bears Hand, um ihre Aufmerksamkeit zu erregen, und sagte etwas auf Suaheli.
«Sie wollen uns zeigen, wo wir uns verstecken können», übersetzte Bear. «Hier draußen gibt es keine Moral. Du weißt genauso gut wie ich, dass es unsere einzige Chance ist.»
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Kapitel 19
Einem Bachbett folgend, kletterten sie einen steilen Hang hinunter. Der Bach floss durchs Unterholz und bildete hier und da kleine Pfützen, ehe er weiterfloss und das Sonnenlicht in bunten Farben reflektierte. Lanso ging voraus, gefolgt von Bear, Abasi und Luca. Das Wasser spritzte Luca an die Hosenbeine und sickerte langsam durch die Nähte seiner Stiefel, aber wenigstens verwischte es ihre Spuren.
Luca sah, wie flink und geschmeidig Abasi Büschen und niedrigen Zweigen auswich. Weil er so klein war, brauchte er meist bloß den Kopf einzuziehen oder den Oberkörper seitwärts zu drehen, wenn ihm etwas im Weg war. Seine nackten Füße fanden sicheren Halt auf den schlüpfrigen Steinen und Erdschichten, während Luca immer wieder Zweigen ausweichen musste oder an Dornen festhing. Er hatte Mühe, den anderen zu folgen, und er konnte immer nur wenige Zentimeter des vor ihm liegenden Weges erkennen. So sah er erst im letzten Moment, dass Abasi auf eine Felsnase sprang, die ins Bachbett hereinragte. Dort blieb der Junge reglos stehen und starrte auf etwas.
Als Luca auf seiner Höhe war, versuchte er zu erkennen, was die Aufmerksamkeit des Jungen erregte. Nach wenigen Sekunden sah er es. Die Finger einer ausgestreckten Hand ragten aus einem Blätterhaufen. Sie waren unnatürlich verbogen. Dann sah Luca, dass die Hand an eine andere gefesselt war. Über den Händen lag ein Arm, ein Stück weiter oben sah er eine Mulde, in der offenbar ein Kopf gelegen hatte.
Luca war schon völlig schockiert, bevor er erkannte, dass da noch mehr Leichen lagen. Überall Körperteile, in den unmöglichsten Positionen. Es mussten Dutzende Leichen sein, die von Erde und Blättern halb verborgen waren und so durcheinanderlagen, dass es aussah, als seien sie wie ein Haufen Müll abgeladen worden. Luca sah von einer zur anderen, und sein Blick blieb an einer kleinen Hand hängen, die sich an einem bunten Stofffetzen festzukrallen schien. Noch im Tod waren die dicken, kleinen Finger verkrampft und endeten in winzigen Fingernägeln. Es war die Hand eines Kleinkindes, das so dalag, wie es gestorben war, und sich am Rocksaum der Mutter festhielt.
«Herrgott», murmelte Luca und merkte, wie sein Magen revoltierte, als der Wind den Leichengeruch herüberwehte. Erst jetzt sah er, dass Hunderte von Fliegen auf den verwesenden Körpern saßen. Er legte eine Hand auf Abasis Schulter und flüsterte: «Es tut mir so leid.»
Der Junge starrte ihn an, dann packte er Luca am Arm und zog ihn mit sich fort, den anderen nach.
Sie kletterten den Felsen hinauf, immer höher, bis sie eine aus Seilen geknüpfte Hängebrücke erreichten, die schon vor Jahren von den Pygmäen errichtet worden sein musste, um die Kluft zwischen zwei Felsen zu überspannen. Luca zögerte und betrachtete das morsche Seil, das von Regen und Sonne völlig verwittert war. Die Konstruktion diente Menschen, die höchstens eins fünfzig groß und halb so schwer waren wie er. Er fragte sich, ob die Brücke ihn tragen würde, aber als er in die Tiefe blickte, wusste er, dass er keine Wahl hatte.
Abasi ging wieder voraus, und langsam überquerten sie die wackelige Brücke. Jeder Faden, jeder Knoten
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