Der Weg ins Glueck
hatte sie einmal kurz nach ihrer Hochzeit besucht, aber dann jahrelang nichts mehr von ihr gehört. Aber sie wusste, dass die lebensfrohe, gastfreundliche Hannah sie jederzeit mit offenen Armen aufnehmen würde.
Die halbe Strecke kamen sie noch ganz gut voran, aber dann wurde es schwieriger. Die Straße, die nur selten befahren wurde, war holprig und von Furchen durchzogen. Jims wurde so müde, dass Rilla ihn zum Schluss tragen musste. Erschöpft erreichte sie schließlich das Brewster-Haus und setzte Jims mit einem Seufzer der Erleichterung auf dem Gehweg ab. Der Himmel war inzwischen ganz finster und die ersten schweren Regentropfen fielen. Der Donner wurde laut und lauter. Plötzlich erschrak Rilla. Die Fensterläden waren alle zu und die Türen abgeschlossen. Die Brewsters waren gar nicht zu Hause! Rilla lief zum Schuppen hinüber. Der war auch abgeschlossen. Kein anderer Zufluchtsort war in Sicht. Das einfache, weiß getünchte Haus hatte noch nicht einmal eine Veranda oder eine überdachte Haustür. Jetzt war es fast Nacht und die Lage schien aussichtslos.
»Wir müssen da hinein, und wenn ich einen Fensterladen aufbrechen muss!«, beschloss Rilla. »Hannah hätte dafür bestimmt Verständnis. Wenn sie hört, dass ich bei ihrvor einem Gewitter Zuflucht suchen wollte und nicht ins Haus gekommen bin, das würde sie sich nie verzeihen.«
Zum Glück musste sie gar nicht so weit gehen und ins Haus einbrechen. Das Küchenfenster ließ sich ziemlich leicht öffnen. Rilla hob Jims hinein und kletterte dann hinter ihm her, genau in dem Moment, als der Sturm richtig losbrach. »Schau mal, lauter kleine Donnerkugeln!«, rief Jims begeistert aus, als es hinter ihnen hereinhagelte. Rilla schloss schnell das Fenster. Nach längerem Suchen fand sie schließlich eine Lampe und zündete sie an. Sie befanden sich in einer sehr gemütlichen kleinen Küche. Die Tür auf der einen Seite führte in ein sauberes, nett eingerichtetes Wohnzimmer; hinter der anderen Tür befand sich eine gut gefüllte Speisekammer.
Ich werde es mir hier gemütlich machen, dachte Rilla. Ich weiß, dass das in Hannahs Sinne ist. Ich werde für Jims und mich eine Kleinigkeit zu essen machen, und wenn es nicht aufhört zu regnen und niemand heimkommt, dann werde ich mich oben im Gästezimmer schlafen legen. Im Notfall einen klaren Kopf bewahren, das wäre was! Wie konnte ich nur so dumm sein und Jims einfach hinterherspringen, als er aus dem Zug fiel! Ich hätte in den Wagen laufen und dafür sorgen sollen, dass der Zug anhält! Dann säße ich jetzt nicht in der Klemme. Aber wenn ich nun schon mal drinsitze, mache ich eben das Beste daraus. Das Haus sieht jetzt viel hübscher aus als damals, als ich mal hier war, dachte Rilla weiter, während sie sich umsah. Natürlich, Hannah und Ted waren gerade erst eingezogen. Aber irgendwie hatte ich den Eindruck, als sei Ted nicht besonders wohlhabend. Er muss es doch zu etwas gebracht haben, wenn sie sich solche Möbel leisten können. Das freut mich sehr für Hannah.
Das Gewitter zog vorüber, aber es regnete weiter in Strömen. Um elf Uhr ging Rilla davon aus, dass niemand mehr nach Hause kommen würde. Jims war auf dem Sofa eingeschlafen. Sie trug ihn nach oben ins Gästezimmer und legte ihn ins Bett. Dann zog sie sich aus, schlüpfte in ein Nachthemd, das sie in der Waschtischschublade fand, und kletterte schläfrig unter eine hübsche, nach Lavendel duftende Bettdecke. Sie war so schrecklich müde nach all den Anstrengungen und Abenteuern, dass sie noch nicht mal mehr in der Lage war, sich ihrer absonderlichen Lage bewusst zu werden. Nach wenigen Minuten war sie fest eingeschlafen.
Rilla schlief bis um acht Uhr am nächsten Morgen, dann wurde sie abrupt geweckt. Sie erschrak. Jemand sagte in scharfem, grobem Ton: »He, ihr beiden, wacht auf! Was hat das zu bedeuten?!«
Und ob Rilla aufwachte, mit einem Schlag war sie hellwach! So wach war sie noch nie gewesen am frühen Morgen. Drei Leute standen im Zimmer, einer davon ein Mann. Sie kannte keinen von den dreien. Der Mann war ein großer Kerl mit einem buschigen schwarzen Bart und finsterem Blick. Neben ihm stand eine Frau: groß, dünn und steif, mit feuerrotem Haar und einem unbeschreiblichen Hut auf dem Kopf. Die sah noch mürrischer und erstaunter aus als der Mann, falls das überhaupt möglich war. Im Hintergrund stand noch eine Frau, eine kleine alte Dame, mindestens achtzigjahre alt. Obwohl sie so klein war, fiel sie sofort auf -, sie war ganz in
Weitere Kostenlose Bücher