Der Weg ins Glueck
geliebten und so sorgfältig aufgezogenen kleinen Sonnenschein nie Wiedersehen. Was für eine Zukunft blühte ihm denn mit so einem Vater? Rilla hätte Jim Anderson am liebsten gebeten ihn bei ihr zu lassen, aber seinem Brief nach brauchte sie sich da nicht viel Hoffnung zu machen.
Wenn er wenigstens in Gien bleiben würde, wo ich Jims öfter sehen und ihn öfter bei mir haben könnte, dann würde ich mir nicht solche Sorgen machen, dachte sie. Aber das tut er bestimmt nicht - und dann wird Jims dafür bezahlen müssen. Dabei ist er doch so ein aufgeweckter kleiner Kerl, so wissbegierig, wo immer er das auch herhat - und kein bisschen faul. Aber sein Vater wird nicht einen Cent übrig haben für irgendeine Art von Ausbildung. Jims, mein kleines Kriegsbaby, was soll nur aus dir werden?
Jims machte sich indessen darüber nicht die geringsten Gedanken. Er amüsierte sich über das lustige Backenhörnchen, das auf dem Dach über dem Gleis herumhüpfte. Als der Zug weiterfuhr, beugte sich Jims neugierig vor, um das Tierchen noch einmal zu sehen, und machte sich dabei von Rillas Hand los. Rilla war so sehr in Gedanken über seine Zukunft vertieft, dass sie für einen Augenblick nicht Acht gab. Jims verlor das Gleichgewicht, purzelte Hals über Kopf die Stufen hinunter, wurde über den schmalen Bahnsteig hinweggeschleudert und landete im Farnkraut auf der gegenüberliegenden Seite.
Rilla schrie auf und dachte nicht lange nach. Sie sprang die Stufen hinab und machte einen Satz auf den Bahnsteig.
Zum Glück fuhr der Zug noch ziemlich langsam; zum Glück behielt Rilla noch so viel Verstand, in Fahrtrichtung abzuspringen. Trotzdem fiel sie hin und stürzte so unglücklich vom Bahndamm, dass sie in einem Graben voller Unkraut landete.
Niemand hatte gesehen, was passiert war, und der Zug brauste davon und verschwand hinter der nächsten Kurve.
Rilla rappelte sich auf, schwindelig, aber unverletzt, kletterte aus dem Graben und rannte, so schnell sie konnte, quer über den Bahnsteig. Bestimmt war Jims tot oder in Stücke gerissen! Doch Jims war unverletzt bis auf ein paar Prellungen und einen Riesenschreck. Er war so sehr erschrocken, dass er noch nicht einmal weinen konnte, während Rilla, als sie feststellte, dass er gesund und munter war, in Tränen ausbrach und heulte wie ein Schlosshund.
»Blöder Zug!«, schimpfte Jims. »Und blöder lieber Gott!«, fügte er mit finsterem Blick gen Himmel hinzu.
Rilla musste plötzlich lachen, so heftig, dass es schon an Hysterie grenzte, wie ihr Vater wahrscheinlich behauptet hätte. Aber sie hatte sich gerade noch in der Gewalt.
»Rilla Blythe, dass du dich nicht schämst!«, sagte sie zu sich selbst. »Nun reiß dich aber zusammen! Jims, so etwas darf man doch nicht sagen!«
»Aber Gott hat mich aus dem Zug geschmissen!«, sagte Jims trotzig. »Irgendwer hat mich rausgeschmissen, und wenn du’s nicht warst, war’s der liebe Gott!«
»Nein. Du bist hinausgefallen, weil du meine Hand losgelassen und dich zu weit rausgebeugt hast. Ich hab dir gesagt, dass du das nicht tun darfst. Es war also deine eigene Schuld.« Jims schaute sie an, um sich zu vergewissern, ob sie das ernst meinte. Dann wandte er den Blick wieder zum Himmel hinauf. »Dann entschuldige bitte, lieber Gott«, sagte er.
Rilla warf ebenfalls einen kritischen Blick zum Himmel hoch. Er gefiel ihr nicht. Eine dunkle Gewitterwolke tauchte im Nordwesten auf. Was sollte sie bloß tun? An diesem Abend würde kein Zug mehr fahren; der Neunuhr-Sonderzug fuhr nur samstags. Ob sie es schaffen würden, zwei Meilen bis zu Hannah Brewsters Haus zu laufen, ehe der Sturm losging? Allein wäre das leicht zu schaffen, dachte Rilla, aber mit Jims? Würden seine kleinen Beine das überhaupt mitmachen?
»Wir müssen es versuchen«, beschloss Rilla schließlich. »Wir könnten uns natürlich auf dem Bahnsteig unterstellen, bis der Sturm vorbei ist. Aber womöglich regnet es dann die ganze Nacht und stockfinster wird es noch dazu. Wenn wir es bis zu Hannah schaffen, können wir bestimmt bei ihr übernachten.« Hannah Brewster, mit Mädchennamen Hannah Crawford, hatte früher in Gien gewohnt und war mit Rilla zur Schule gegangen. Sie waren damals gute Freundinnen gewesen, obwohl Hannah drei Jahre älter war. Sie hatte sehr früh geheiratet und war dann nach Millward gezogen. Sie hatte kein einfaches Leben gehabt, musste hart arbeiten, bekam Kinder, und ihr Mann war ein Taugenichts. Hannah besuchte ihren Heimatort nur noch selten. Rilla
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