Der Weg Nach Tanelorn
seinen »Palast« nannte. In diesem Haus war es auch gewesen, wo Ilian unter unerträglichen Folterqualen das Versteck ihres Bruders preisgegeben hatte.
Einen Augenblick verdrängte finsterste Verzweiflung Ilians Hochgefühl, und sie hielt an. Die Schlachtgeräusche um sie schienen zu verstummen, alles vor ihren Augen schien zu verschwimmen. Sie sah nur Ymryls Gesicht vor sich, fast jungenhaft in seinem Ernst, als er sich über sie beugte und fragte: »Wo ist er? Wo ist Bradne?«
Und sie hatte es ihm verraten!
Ilian zitterte. Sie senkte das Schwert, ohne auf die Feinde rings um sie zu achten. Fünf grässlich missgestaltete Kreaturen; deren Gesichter und sichtbare Haut mit riesigen Warzen bedeckt waren, versuchten, sie anzuspringen, griffen nach ihr. Sie spürte ihre scharfen Krallen, die durch die Glieder ihres Kettenhemdes drangen. Sie blickte über sie hinweg.
»Bradne …«, murmelte sie.
»Seid Ihr verwundet, Mädchen?« Katinka van Bak eilte herbei. Ihre Axt landete auf einem Schädel, die Keule zerschmetterte eine Schulter. Die warzigen Gegner quiekten. »Was ist mit Euch?«
Ilian riss sich aus ihren düsteren Erinnerungen und hieb mit dem Schwert hinab auf einen warzenbedeckten Leib. »Alles wieder in Ordnung«, versicherte sie Katinka.
»Es sind noch etwa hundert übrig!« rief Katinka van Bak ihr zu. »Sie haben sich im Haus Eures Vaters verbarrikadiert. Ich bezweifle, dass es uns gelingt, sie noch vor Anbruch der Dunkelheit herauszuholen.«
»Dann müssen wir Feuer an das Haus legen«, sagte Ilian kalt. »Und sie ausräuchern.«
Katinka runzelte die Stirn. »Das gefällt mir nicht. Selbst ihnen sollte man die Gelegenheit bieten, sich zu ergeben …« »Verbrennt sie und verbrennt das Haus! Verbrennt es!« Ilian wirbelte ihren Vayna herum und sah sich auf dem Platz um. Er war mit Leichen bedeckt. Von ihren eigenen Leuten waren noch etwa fünfzig übrig. »Das wird uns weiteren Kampf ersparen. Oder nicht, Katinka van Bak?« »Das wohl, aber …«
»Und die Leben unserer Leute, die uns noch geblieben sind?« »Ja …« Katinka sah Ilian an, aber das Mädchen wandte das Gesicht ab. »Ja. Aber was ist mit dem Haus selbst? Eure Familie hat seit Generationen darin gelebt. Es ist das prächtigste Gebäude von Virinthorm, ja selbst in ganz Garathorm ist kaum ein schöneres zu finden. Sein Holz ist kostbar. Viele der Baumarten, aus deren Holz es errichtet ist, gibt es nicht mehr …«
»Verbrennt es! Ich könnte dort nicht mehr leben!«
Katinka seufzte. »Ich werde den Befehl geben, obgleich es mir nicht behagt. Wollt Ihr mir nicht gestatten, unseren Feinden eine Chance zu geben, mit leeren Händen herauszukommen?«
»Sie kannten kein Erbarmen mit uns.«
»Aber wir sind nicht sie. Moralisch …«
»Ich will im Augenblick nichts von Moral hören!«
Katinka van Bak übermittelte Königin Ilians Befehl.
2. Ein unmöglicher Tod
Die Gesichter der jungen Männer und Frauen wirkten grimmig, als sie ins Feuer starrten und zusahen, wie Pyrans prachtvolles Haus niederbrannte und die Nacht erhellte. Der Geruch dieses gewaltigen Scheiterhaufens reizte ihre Nasen, und sie hörten die grauenvollen Schreie, die aus dem dicken schwarzen Rauch drangen.
»Es ist nur gerecht«, sagte Ilian von Garathorm.
»Aber es gibt andere Formen von Gerechtigkeit«, erwiderte Katinka van Bak leise. »Ihr könnt die Schuld, die Euch quält, nicht ausbrennen.«
»Kann ich das nicht, Madam?« Ilian lachte rau. »Wie erklärt Ihr Euch dann die Befriedigung, die mich dabei erfüllt?«
»Ich bin Derartiges nicht gewöhnt«, murmelte Katinka van Bak. Ihre Worte galten allein Ilians Ohren. Nur zögernd fuhr sie fort: »Ich bin nicht zum ersten Mal Zeuge solcher Racheakte, aber mir gefällt dieses Gefühl der Unruhe nicht, das ich dabei empfinde. Ihr seid grausam geworden, Ilian.«
»Das ist das Schicksal des Ewigen Helden«, warf Jhary ein, dem die leisen Worte nicht entgangen waren. »Es ist stets so. Lasst es Euch nicht betrüben, Katinka van Bak. Der Held muss immer versuchen, sich von einer quälenden Bürde zu befreien. Eines der Mittel dazu ist die gewollte Grausamkeit – eine Handlung, die dem Gewissen des Helden entgegenwirkt. Ilian glaubt, sie trägt nur die Schuld des Verrats an ihrem Bruder. Aber das ist nicht so. Es ist eine Schuld, wie Ihr, Katinka van Bak, und ich, sie nie kennen werden. Und dafür sollten wir unseren Göttern danken!«
Ilian schauderte. Sie hatte Jharys Worte nur halb verstanden, aber ihre
Weitere Kostenlose Bücher