Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
Vom Netzwerk:
freilich unterschlagen. Coleridge berichtet Wordsworth von
seinen Studien am lebenden Objekt. Mit geschwellter Brust sitzt die Nachtigall
auf einem Ast und entläßt ihrer Kehle derart berührende Gesänge, daß man
schwören könnte, alles Gewöhnliche müsse sich in Luft auflösen —
     
    So far, so good; but then, ‘od
rot him!
    There’s something falls off at
his bottom...
     
    So weit, so gut; aber dann, sie
möge verrotten!
    Fällt etwas an ihrem Hinterteil
herunter...
     
    Über diese Schlußwendung waren
die Schirmherren der Ausstellung offensichtlich not amused. Wenigstens
du, sagte ich quer durch den Raum zu Williams Konterfei, hast hoffentlich
damals darüber lachen können.
    Kurz vor dem Ausgang verfing
sich mein Blick in einem Buchstabengewirr. Ein Manuskript in einer winzigen
Vitrine. Diese Handschrift kannte ich.
    »A Letter to — «, der
geschwungene Anstrich und die Pfeilspitze beim A. Das L, das so weit nach
rechts kippt, daß es nur vom nachfolgenden Vokal am Fallen gehindert wird.
»Sunday Evening« — dieses in sich selbst verbissene Schlangen-S. Das E wie beim
Firmenlogo von Esso, das g mit einer Tiefenschleife, als gelte es, die spitzen
ls und ks aus der nächsten Zeile herauszufischen. Oder die gehörnten ts mit dem
Lasso zu erwischen.
    Mitten in Wordsworth-Country,
in der Höhle des Lamms, wie Martin sagen würde, stieß ich auf die Pranke des
Löwen. Hinter Gittern allerdings, denn die Handschrift ist von zwei senkrechten
Linien eingesperrt.
    Dieses Bild lügt natürlich.
Coleridge schrieb seinen Liebesbrief an Sara Hutchinson über die
vorgedruckten Linien in das Haushaltsbuch seiner Gattin. Einnahmen, Ausgaben,
Abgang. Drei Spalten. Und quer darüber: die Abrechnung mit einer Sehnsucht, die
nicht stark genug war, ihn aufbrechen zu lassen, aber stark genug, ihn zu
brechen. (Dritte Spalte: Hohe Verluste.)
    Brütete noch über den Zeichen,
bis zwei Wärter kamen und mich zurechtwiesen. Hatte mir doch tatsächlich eine
Benson angezündet. Mitten im Allerheiligsten des Plain Living. Schickte
Sir Walter beim Ausatmen eine letzte blaue Grußwolke ins Ivanhoe-Nirvana und
drückte die Zigarette an der Packung aus. Raus hier.
    Die Ham-and-Eggs im Swan
harrten meiner Verkostung.

Fünf Coleridge begegnete Sara Hutchinson zum ersten Mal im Oktober 1799. Ihr Bruder
Tom, ein Farmer in Yorkshire und enger Freund der Wordsworths, hatte William
und Dorothy eingeladen, ein paar Wochen mit ihm und seinen drei Schwestern in
Sockburn zu verbringen. Coleridge hatte in Stowey das Gerücht gehört, Williams
Gesundheitszustand sei besorgniserregend, und war sofort nach Yorkshire
aufgebrochen, um ihm beizustehen. Als er in Sockburn ankam, traf er seinen
Freund in bester Verfassung an, man feierte das Wiedersehen mit viel Wein, und
Dorothy fand endlich die Gelegenheit, Coleridge drei ihrer engsten Freundinnnen
vorzustellen: Mary, Joanna und Sara Hutchinson. Wie immer, wenn er sich der
nötigen Aufmerksamkeit sicher sein konnte, lief er zu rhetorischer Höchstform
auf, erzählte wilde Geschichten von seinen Abenteuern in Deutschland, sprang
von einem Thema zum andern, von den Hexen und Geistern auf dem Brocken zu Kants
Metaphysik, von seiner Begeisterung für Lessing zur ungenießbaren Süße des
deutschen Bocksbeutels. Mit der für ihn so charakteristischen Selbstironie
berichtete er über die Begegnung mit Klopstock, sein eigenes ehrfürchtiges
Stammeln zu Beginn der Konversation, als man sich auf Latein über
mittelhochdeutsche Dichtung unterhielt, und die seltsame Diskrepanz zwischen
Klopstocks geistiger Beweglichkeit und seinem äußeren Erscheinungsbild: massiv
geschwollene Beine, ein enormer Leibesumfang und eine gepuderte Perücke auf dem
Kopf. Einem Mann, meinte Coleridge, der stets die These vertreten hatte, daß
ein großer Dichter als Teil der Natur zu betrachten sei, würde es wohl besser
zu Gesicht stehen, seine grauen Haare nicht zu verstecken. Coleridge redete und
redete, doch es entging ihm dabei nicht, daß Sara nicht nur am lautesten über
seine Scherze lachte, sondern ihm auch hellwach und schlagfertig Kontra gab. So
dauerte die Abendunterhaltung etwas länger als üblich, und bevor Coleridge um
vier Uhr morgens das Licht über seinem Bett löschte, notierte er noch: »Es gibt
wenige Augenblicke im Leben, die so interessant sind wie jene, in denen dir Menschen,
die schon von dir gehört haben, aber für die du als Person noch ein Fremder
bist, leidenschaftliche Anteilnahme

Weitere Kostenlose Bücher