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Der Weg nach Xanadu

Der Weg nach Xanadu

Titel: Der Weg nach Xanadu Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilfried Steiner
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entgegenbringen.«
     
    In dieser Nacht schlief
Coleridge wenig. Hin- und hergerissen zwischen der Versuchung, die Atmosphäre
in Sockburn noch ein paar Tage zu genießen, und dem Versprechen, am folgenden
Morgen mit William zu einer ausgedehnten Tour nach Westen aufzubrechen, spielte
er im Geist verschiedene Ausreden für einen Aufschub der Abreise durch und
entschied sich für keine.
    In den kommenden drei Wochen
sollte Coleridge eine weitere ihn entscheidend prägende Begegnung erleben:
diesmal allerdings mit einer Landschaft, dem Lake District.
    »Wie Geister erheben sich die
Berge, und bei ihrem Anblick wurde ich selbst zum Geist... Licht und Dunkelheit
in einander durchdringenden Massen, Erde und Himmel ununterscheidbar... Die
silberne Kante eines Felsens zerschneidet das Sonnenlicht, tausende Seidenhaare
in grünem und bernsteinfarbenem Glanz... Archipele aus kleinen Inseln inmitten
des Sees, wie die Pleiaden am Nachthimmel...«
    Diese Begeisterung — und
Wordsworth’ Beharrlichkeit — führten schließlich zu jenem Umzug nach Greta
Hall, der sich für Coleridges Gesundheit als so fatal herausstellen sollte.
     
    Nach der Verabschiedung von
Wordsworth am 18. November zog es Coleridge nicht nach Nether Stowey. Als er in
Sockburn überraschend vor der Tür stand, wurde ihm von Mary, Dorothy und Sara
ein überschwenglicher Empfang bereitet, und kaum hatte er seine nassen Kleider
im Gästezimmer aufgehängt, wurde er schon zu Tisch gerufen. Bei Lammbraten,
Bier und Branntwein, vor den Licht- und Schattenspielen des Feuers im Kamin,
entwickelte sich ein Abend voller Gelächter, Geschichten und zärtlicher Scherze.
Coleridge flirtete bis in den Morgen mit allen drei Frauen, übermütig und
berauscht von ihrer Zuneigung und Herzenswärme.
    Diesmal konnte er eine ganze
Woche bleiben, ehe er zu einem Termin mit seinem Verleger nach London mußte,
und da weder seine Gattin noch seine Freunde wußten, wo er war, hinderte ihn
nichts mehr daran, sich fallenzulassen und aufzugehen in dieser Welt. Wenn er
die Augen vor der Zukunft verschloß, konnte er sich einbilden, endlich zu Hause
zu sein.
     
    »24. November 1799: Wir standen
alle rund um den Kamin, und ich hielt Saras Hand lange hinter meinem Rücken,
und da durchbohrte mich zum ersten Mal die Liebe mit ihrem Pfeil, vergiftet,
unheilbar...«
     
    Nach dieser Woche im
künstlichen Paradies sieht Coleridge Sara ein ganzes Jahr lang nicht wieder;
zumindest gibt es keinen überlieferten Hinweis auf ein Treffen. Nur eine kleine
Eintragung ins Notizbuch, Mai 1800: »Eine Strähne von Saras Haar in meiner
Tasche.« — Ein kleines Mitbringsel, übergeben von Mary, ein »teasing memento«.
    Im Dezember 1800 und im Jänner
1801 wohnt Sara Hutchinson bei den Wordsworths in Grasmere. Coleridge besucht
sie und schenkt ihr einen Gedichtband mit der Widmung: »To Asahara, the Moorish
Maid« — gewissermaßen die Frühform des Namens, den er ihr später gibt: Asra.
Sie darf sogar selbst — als absolut einzige — Eintragungen in seine Notizbücher
machen; sie schreibt ihm Pflanzennamen ins Buch, eine Liste, fünf Seiten lang.
    Nach ihrer Abreise bleiben ihm
nur der Regen und die Fluchtphantasien. Die Tagträume handeln von Trockenheit,
Wärme und einer neuen Gemeinschaft der Gleichgestimmten. Die Pantisokratie lebt
wieder auf, diesmal mit einer anderen Sara. Während die Nässe seinen Körper
aufweicht, gibt er dem sonnigen Traum einen Namen: die Azoren.
    März 1801: Rapide
gesundheitliche Verschlechterung. Geschwollene Glieder, Gicht, Kendal Black
Drops.
    Coleridge verbringt Tag und
Nacht auf dem Dachboden von Greta Hall, »ein metaphysischer Leuchtturmwächter,
verloren inmitten seiner Bücher und Laudanum-Tinkturen«. Doch im April kommt
Asra für wenige Tage wieder nach Grasmere. Eines Abends besucht sie ihn, sie
sitzen im Schneidersitz auf seinem Bett und lesen gemeinsam ein Buch über eine
Entdeckungsreise zur See, über Ungeheuer und Stürme, die Masten wie
Streichhölzer knicken. Umgeblättert wird gemeinsam. Mrs. Coleridge weilt außer
Haus. Die Azoren sind nah und fern zugleich. Wochen danach noch holt ihn die
Erinnerung an diesen Abend aus dem papierenen Schlaf, läßt ihn plötzlich an
Deck und im Wind sein, stürzt ihn über die Planke zu den Haien, angelt ihn
unter dem Gelächter einer geisterhaften Besatzung wieder an Bord zurück.
    Im Laufe des Frühsommers 1801
erholt sich Coleridge langsam auch körperlich. Als er Nachricht von einer
überraschenden

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