Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
eine breite, umlaufende Terrasse, die Tony viel zu renovierungsbedürftig erschien, als dass er sich hier hätte wohlfühlen können. Der Fremde lehnte am Geländer und kaute auf einem Grashalm.
Tony gesellte sich zu ihm und ließ seinen Blick über das Anwesen schweifen. Dieser Ort war eine sonderbare Mixtur. Manche Teile wirkten halbwegs gepflegt, andere Bereiche hingegen unordentlich und vernachlässigt. Hinter einem schadhaften Zaun lag etwas, das einmal ein Garten gewesen sein musste, doch jetzt von Dornengestrüpp und Unkraut überwuchert war. Jenseits davon befand sich eine Wiese mit verwilderten Obstbäumen, die offenbar schon lange keine Früchte mehr trugen. Insgesamt wirkte das Land missbraucht und ausgelaugt. Zum Glück hatten wilde Bergblumen einige der schlimmsten Narben besiedelt, als wollten sie den Verlust lindern oder im Angesicht des Todes Trost spenden.
Wenn all das, wie er vermutete, eine Manifestation seines Gehirns war, das versuchte, sich neu zurechtzufinden, indem es gespeicherte Gedanken und Bilder miteinander verknüpfte, dann war es erklärlich, dass er sich an diesem Ort, zu seiner Überraschung, durchaus wohlfühlte. Etwas hier sprach ihn an, gefiel ihm. Dieser Mann hatte von Sicherheit gesprochen. Dieses Wort hätte Tony selbst nicht unbedingt gebraucht.
»Was ist das für ein Ort?«, fragte er.
»Das ist eine Wohnstätte «, antwortete der Mann, den Blick in die Ferne gerichtet.
»Eine Wohnstätte? Was genau für eine Wohnstätte soll das denn sein?«
»Ein Platz zum Leben, ein Zuhause.« Der Mann sagte es, als ob er diesen Ort wirklich gern mochte.
»Ein Zuhause? Das hat Jack auch behauptet. Allerdings meinte er, das wäre es ›nicht genau‹. Er meinte auch, dass es ›nicht genau‹ die Hölle wäre, was immer er damit sagen wollte.«
Der Mann lächelte. »Du kennst Jack nicht. Der kann außergewöhnlich gut mit Worten umgehen.«
»Ich habe nicht alles verstanden, was er sagte, aber eines habe ich ansatzweise begriffen, glaube ich – den Unterschied zwischen real und wahr.«
»Hmmm«, brummte der Mann und schwieg, als wollte er Tonys Denkprozess nicht unterbrechen. Für eine Weile standen sie nebeneinander und betrachteten den Ort jeder auf seine Weise, der eine mitfühlend, der andere voller Unbehagen und etwas erschrocken.
»Diese Wohnstätte, von dem du sprichst – meinst du damit nur dieses alte, heruntergekommene Haus oder das ganze Anwesen?«
»Es umfasst auch alles, was du gestern gesehen hast, und mehr. Alles, was sich innerhalb dieser Mauern befindet, und alles, was außerhalb davon liegt. Aber hier«, er deutete mit der Hand an der Festungsmauer entlang, »ist das Zentrum, das Herz der Wohnstätte. Was hier geschieht, verändert alles.«
»Und wem gehört es?«
»Niemandem. Dieser Ort war niemals dafür vorgesehen, ›Besitz‹ zu sein.« Er sprach das Wort ›Besitz‹ aus, als sei es verabscheuungswürdig und gehöre nicht in seinen Mund. »Er war dazu bestimmt, frei, offen, unbegrenzt zu sein … nicht dazu, besessen zu werden.«
Ein paar Augenblicke herrschte Stille, während Tony nach der richtigen Formulierung für seine nächste Frage suchte. »Und wer ›gehört‹ hierhin?«
Ein Lächeln umspielte die Mundwinkel des Mannes, ehe er antwortete. »Ich gehöre hierhin.«
»Du lebst hier?«, fragte Tony, ohne nachzudenken. Natürlich lebte dieser Mann hier. Er war eine komplexe Projektion von Tonys eigenem Unterbewusstsein, und irgendwie interagierte Tony mit dieser Projektion. Außerdem hätte doch wohl kaum jemand hier draußen leben wollen, allein, in dieser Einöde, auf einem so verwahrlosten Anwesen.
»Allerdings lebe ich hier.«
»Allein?«
»Keine Ahnung. Ich habe noch nie allein gelebt.«
Das weckte Tonys Neugierde. »Wie meinst du das? Hier ist doch sonst weit und breit niemand. Ooh, du meinst Jack? Gibt es hier noch andere wie ihn? Kann ich sie bald einmal kennenlernen?«
»Niemand ist so wie Jack. Was die anderen betrifft: ja, aber alles zu seiner Zeit. Es besteht kein Grund zur Eile.« Ein Schweigen folgte, dessen Länge Tony unangenehm wurde. Er kramte nach Erinnerungen, die ihm helfen würden, diesen Ort irgendwie einzuordnen, aber es wollte ihm nichts einfallen – kein Bild, keine Idee, nichts, was einen Bezug zu früheren Erfahrungen hätte herstellen können. All das, was er hier sah und erlebte, sollte lediglich eine Projektion seines von Medikamenten umnebelten, im Koma vor sich hin dämmernden Gehirns sein? Darauf
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