Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
konnte er sich einfach keinen Reim machen.
»Und wie lange lebst du schon hier?«
»Etwas über vierzig Jahre«, antwortete der Mann. »Manche würden sagen: ein ganzes Leben. Was aber in Wirklichkeit nicht viel mehr ist als ein Wimpernschlag.«
Tony schüttelte den Kopf und erwiderte in unaufrichtigem Tonfall und mit einem Anflug von Überlegenheit: »Willst mich wohl auf den Arm nehmen, was?« Wenn das stimmte, dann war dieser Mann verrückt. Nur ein Verrückter konnte es vierzig Jahre in einer solchen Ödnis aushalten. Tony war sicher, dass er selbst hier schon nach vierzig Stunden durchdrehen würde.
Möglichst unauffällig betrachtete Tony den Fremden von der Seite, der das nicht bemerkte, oder es kümmerte ihn nicht. Tony fing an, ihn zu mögen. Er schien zu jener seltenen Sorte Mensch zu gehören, die sich in ihrer eigenen Haut wirklich wohlfühlten und auch mit ihrer Umwelt ihren Frieden gemacht hatten. Dieser Mann schien, im Gegensatz zu den meisten Leuten, die Tony kannte, völlig frei von Hintergedanken zu sein und ihn nicht übervorteilen zu wollen. Er strahlte ›Zufriedenheit‹ aus. Ja, das war wohl das passende Wort. Nur, dass niemand, der halbwegs bei Trost war, hier in dieser Einsamkeit hätte zufrieden sein können! Für Tony bedeutete Zufriedenheit Langeweile. Vielleicht war dieser Bursche einfach ein Ignorant, ein ungebildeter Hinterwäldler, der es nicht besser wusste. Aber er war da, das ließ sich nicht leugnen, als unerwartetes Element einer Projektion von Tonys Unterbewusstsein. Seine Anwesenheit musste eine Bedeutung haben.
»Würdest du mir dann freundlicherweise verraten, wer du bist?«
Jetzt drehte der Mann den Kopf, und diese unglaublich durchdringenden Augen schauten Tony an. »Tony, ich bin der, von dem deine Mutter gesagt hat, dass er dich niemals verlassen würde.«
Es dauerte einen Moment, bis diese Antwort durchsickerte, dann wich Tony einen Schritt zurück. »Jesus? Du? Du bist der Jesus?«
Der Mann sagte nichts, sondern erwiderte nur Tonys Blick, bis dieser zu Boden schaute, um sich zu konzentrieren. Und plötzlich begriff er. Natürlich war das Jesus! Wen denn sonst hätte sein Unterbewusstsein in diesem komatösen Zustand heraufbeschwören sollen, wenn nicht Jesus, den Archetyp unter den Archetypen, ein Vorstellungsbild, das in die tiefsten Tiefen des neuronalen Netzwerks eingegraben war? Und hier stand er also vor ihm, dieser Jesus! Eine neurologische Projektion, die keine echte Existenz und keine reale Substanz besaß.
Er schaute auf, und genau in diesem Moment versetzte der Fremde ihm mit der flachen Hand eine Ohrfeige, die fest genug war, um wehzutun, ohne Schäden zu hinterlassen. Tony war völlig verblüfft, und sofort wurde er wütend.
»Nur um dir zu zeigen, wie lebhaft deine Fantasie ist.« Der Mann lachte, seine Augen immer noch gütig und sanft. »Ist es nicht erstaunlich, was für kräftige Backpfeifen eine Projektion austeilen kann, die keine echte Existenz und keine reale Substanz besitzt?«
In Gegenwart anderer Leute hätte Tony sich gedemütigt gefühlt und wäre zornig geworden. Aber er war mehr verblüfft und erstaunt als alles andere. »Perfekt!«, verkündete er, nachdem er seine Gedanken wieder beisammen hatte. »Das ist der Beweis, dass du nur eine Projektion bist! Der echte Jesus würde niemals jemanden ohrfeigen!«
»Und woher bist du dir da so sicher? Kennst du ihn etwa persönlich?« Die Jesus-Person grinste und hatte sichtlich ihren Spaß. »Vergiss nicht, Tony, du hast dir selbst eingeredet, ich wäre ein Jesus, der von einem unter Drogen stehenden Unterbewusstsein erzeugt wird. Du selbst hast dieses Dilemma geschaffen. Entweder bin ich der, der ich zu sein behaupte, oder du glaubst tief drinnen an einen Jesus, der imstande ist, einen Menschen ins Gesicht zu schlagen. Nun, welche Variante ist die richtige?«
Da stand dieser Jesus und schaute mit verschränkten Armen zu, wie Tony versuchte, die Frage logisch in den Griff zu bekommen. Schließlich hob er den Kopf und antwortete: »Dann ist es wohl so, dass ich tatsächlich glaube, Jesus wäre dazu fähig, mich ins Gesicht zu schlagen.«
»Hah! Gut für dich! Tote Menschen bluten wirklich!« Jesus lachte und legte den Arm um Tonys Schulter. »Immerhin versuchst du, deinen Theorien treu zu bleiben, selbst wenn sie unwahr sind und trotz all der Schwierigkeiten, die du dir dadurch einhandelst. Eine mühsame Art zu leben, aber verständlich.«
Tony zuckte die Achseln und stimmte in das
Weitere Kostenlose Bücher