Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
wagte wieder den Blick in diese Augen und fand die Worte. Er fürchtete sich vor dem, was er nun andeutete. »Willst du mir etwa erzählen, dieses alles, nicht nur das innerhalb der Mauern, sondern auch alles, was außerhalb von ihnen existiert, wäre ein lebendiges Wesen?«
Jesus hielt unerschütterlich seinem Blick stand. »Ich erzähle dir noch viel mehr, Tony. Ich sage dir: Dieses lebendige Wesen … bist du!«
»Nein, das kann nicht sein!« Tony spürte eine unsichtbare Faust, die ihm in den Magen gerammt wurde. Er wandte sich ab, taumelte ein paar Schritte und schaute sich um. Von einem Moment zum anderen hatte sich seine Sicht verändert. Seine Augen hatten sich geöffnet, aber jetzt wehrte er sich verzweifelt gegen das, was er sah. Er hatte aus der Position eines Unbeteiligten, der sich überlegen fühlte, sein Urteil über diesen Ort gefällt. Er hatte es zu einem verlorenen, abgewirtschafteten Niemandsland erklärt, das sich nicht zu bewahren lohnte. Das war seine Einschätzung. Er würde alles, was lebendig war, planieren lassen und es dann durch Beton und Stahl ersetzen.
Tony sank auf die Knie und bedeckte seine Augen mit den Händen, als wollte er neue Lügen heraufbeschwören, um die Leere zu verbergen, die durch die Abwesenheit der alten Lügen hervorgerufen wurde – oder sich einer neuen Selbsttäuschung hingeben, die Zuflucht, Schutz und Trost versprach. Aber wenn man erst einmal »sieht«, kann man sich nicht mehr »blind« stellen. Die Aufrichtigkeit zwang ihn, sich die Hände vom Gesicht zu reißen. Die Klarheit wollte sich Gehör verschaffen. Er sah wieder hin, sah diesmal wirklich gründlich hin. Er entdeckte nichts, was er bewunderte oder wofür er Zuneigung verspürte. Dieser Ort war eine ausgelaugte Einöde, ein trauriger Schandfleck in einer ansonsten vermutlich ansprechenden Welt. Wenn das hier wirklich er selbst war, sein eigenes Herz, dann war er bestenfalls eine niederschmetternde Enttäuschung. Und schlimmstenfalls hasste er alles, was ihn ausmachte.
Zu weinen war eine Schwäche, die er verachtete, etwas, dem er schon als Junge abgeschworen hatte. Aber jetzt konnte er es nicht zurückhalten. Das Weinen wurde zu einem Schluchzen. Ein Damm brach, über Jahre aufgestaut, und Tony fühlte sich völlig hilflos seinen Tränen ausgeliefert. Er konnte nicht sagen, ob seine Emotionen ihn beben und zittern ließen oder ob die Erde buchstäblich unter ihm erzitterte.
»Es kann nicht wahr sein! Das kann einfach nicht sein!«, schrie er und wagte nicht, diesen Mann anzusehen, der von sich behauptete, Jesus zu sein. »Ich will nicht, dass es wahr ist!« Tony bettelte: »Bitte, sag mir, dass es nicht wahr ist! Ist das alles, was ich bin? Ein krankes, erbärmliches Ödland von einem Menschen? Das soll mein Leben sein? Bin ich so einsam und abstoßend? Bitte, sag mir, dass das nicht wahr ist!«
Wellen des Selbstmitleids und des Selbsthasses schüttelten ihn, bis er das Gefühl bekam, das Gewebe seiner Seele würde zerreißen. Eine Schockwelle schleuderte ihn zu Boden. Jesus kniete sich neben ihn und hielt ihn fest, ließ Tony geborgen in seinen Armen weinen. Jesus war stark genug, unerträglichen Schmerz und Verlust durch seine sanfte, gütige Umarmung zu lindern. Die Gegenwart dieses Mannes schien das Einzige zu sein, was Tony retten konnte.
Tony hatte das Gefühl, dass der emotionale Hurrikan ihm das Bewusstsein aus der Verankerung riss. Alles, was er für real und richtig gehalten hatte, wurde zu Staub und Asche. Aber dann, wie ein Lichtblitz, offenbarte sich ihm das genaue Gegenteil: was, wenn er in Wahrheit gerade dabei war, sein Bewusstsein, sein Herz, seine Seele zu finden? Er schloss die Augen ganz fest und schluchzte. Er wollte sie niemals wieder öffnen, nie wieder seine Schande anschauen, das, wozu er geworden war.
Dieser Jesus, Projektion oder nicht, verstand, und er barg Tonys tränenüberströmtes Gesicht an seiner Schulter. Trockenes Schluchzen schüttelte Tony, doch Jesus hielt ihn die ganze Zeit in den Armen und ließ nicht los. Das Schluchzen ließ nach, und als Tony sich schließlich beruhigt hatte, fing der Mann zu sprechen an.
5
DA WAR ES NUR NOCH EINER
»Schmerz erinnert uns daran, dass wir leben,
aber die Liebe erinnert uns daran, warum wir leben.«
Trystan Owain Hughes
H öre meine Worte, Tony.« Jesus strich ihm wieder durchs Haar, wie er es bei einem Kind, einem Sohn tun würde. »Jeder Mensch ist ein ganzes Universum. Dein Vater und deine Mutter wirkten
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