Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
hingebungsvoller, fürsorglicher Liebe – Einssein. Nichts ist tiefer, einfacher und reiner.«
»Das klingt schön. Wenn es wahr wäre …«
»Schau, wir sind da«, sagte Jesus. Der Weg tauchte in ein Wäldchen ein und wurde so schmal, dass sie hintereinandergehen mussten. Tony ging voran, dankbar, dass dieser Pfad sich nicht immer wieder teilte. Tony kam an den Rand einer Wiese und merkte plötzlich, dass er allein war. Am anderen Ende der Wiese ragte eine mächtige Steinmauer auf, die sich erstreckte, so weit das Auge reichte. Eine aus Erde aufgeschichtete Treppe führte hinauf zu einer unscheinbaren Lehmhütte, vielleicht gerade groß genug für zwei Zimmer. Aber von dort oben konnte man das ganze Tal überblicken. Tony konnte die Gestalt einer Frau erkennen, die auf einer Holzbank saß, den Rücken an die Hütte gelehnt, in der sie offenbar wohnte. Der Mann, der sich Jesus nannte, stand bereits oben bei ihr, die Hand auf ihre Schulter gelegt. Sie sprachen miteinander.
Als Tony die ungefähr hundert Stufen hinaufstieg, sah er, dass es eine ältere, runde Frau war. Ihr glänzend schwarzes Haar war zu zwei mit bunten Perlen geschmückten Zöpfen geflochten. Sie trug ein schlichtes Kleid, das in der Mitte durch einen Gürtel aus noch mehr Perlen zusammengehalten wurde. Um ihre Schultern lag eine mit Symbolen geschmückte Decke. Ihre Augen waren geschlossen, das Gesicht dem Himmel zugewandt. Sie war Indianerin, eine Angehörige der First Nations.
»Anthony«, begrüßte ihn Jesus, als Tony sich dem Paar näherte, »das ist Winyan Wanagi. Du kannst sie Kusi (kuen-schi) nennen, oder Großmutter, wenn dir das lieber ist. Es gibt ein paar Dinge, über die ihr euch unterhalten müsst. Sie weiß, warum du hier bist. Daher werde ich dich jetzt für eine Weile verlassen, obwohl ich niemals abwesend bin.« Im nächsten Augenblick war er vielleicht nicht verschwunden, aber doch unsichtbar.
»Danke, Anpo Wicapi«, sagte sie sanft.
»Setz dich!« Ohne die Augen zu öffnen, zeigte sie auf den Platz neben sich. Ihre Stimme war tief und wohlklingend. Er gehorchte. Sie saßen schweigend nebeneinander auf der Bank, sie mit geschlossenen Augen. Er ließ den Blick über das Land schweifen, das sich wie eine Decke unter ihnen ausbreitete. Von hier aus konnte er, in sicherlich mehreren Kilometern Entfernung, undeutlich die gegenüberliegende Seite der Festungsmauer sehen, und zu seiner Linken sah er, klar erkennbar, das baufällige Ranchhaus, in dem er aufgewacht war. Dieser einsame Ort sollte also sein eigenes Herz sein, falls er dem, was ihm gesagt worden war, Glauben schenken konnte. Es war nicht wirklich ein Zuhause, aber auch nicht wirklich eine Hölle. Letzteres fühlte sich momentan allerdings zutreffender an als Ersteres.
Ihr Schweigen kam ihm wie eine Ewigkeit vor, auch wenn tatsächlich wohl kaum mehr als eine Viertelstunde verstrich. Doch an Stille und Untätigkeit war Tony nicht gewöhnt. Er wartete und wurde dabei innerlich immer angespannter.
Er räusperte sich. »Möchten Sie …«
»Schschsch! Hab zu tun!«
Wieder wartete er so lange, bis er es nicht mehr aushalten konnte. »Aha, was tun Sie denn?«
»Ich gärtnere. Da ist so viel Unkraut.«
»Oh.« Er mochte nicht zugeben, dass diese Antwort für ihn überhaupt keinen Sinn ergab. »Und … was genau tue ich hier?«
»Für Unruhe sorgen. Sitz still. Atme ein, atme aus. Schweig.«
Also saß er einfach nur da und versuchte, äußerlich ruhig zu bleiben, während Bilder, Gefühle und Fragen in ihm anschwollen wie ein Fluss, der über die Ufer tritt. Gewohnheitsmäßig hob er die rechte Ferse, und sein Fuß tanzte auf und nieder. Er bemerkte diesen nervösen Versuch gar nicht, die innere Energie und Anspannung im Zaum zu halten.
Ohne die Augen zu öffnen und fast ohne sich zu bewegen, legte ihm die Frau ihre Hand auf das wippende Knie und brachte es zur Ruhe.
»Warum rennst du so schnell?« Gemessen an dem Körper, der sie hervorbrachte, klang ihre Stimme jung und weich.
»Das tue ich doch gar nicht«, erwiderte er. »Ich sitze einfach hier, wie Sie es mir gesagt haben.«
Sie nahm ihre Hand nicht weg, und er spürte, wie Wärme in sein Bein strömte. »Anthony, warum denkst du immer, Einladungen seien Erwartungen?«
Er musste unwillkürlich grinsen. Er wusste, dass er nicht zu antworten brauchte, dass sie seine Gedanken ohnehin schon kannte. Einladungen waren Erwartungen. Alle Menschen verfolgten ihre eigenen Ziele, manchmal eher offen, manchmal im
Weitere Kostenlose Bücher