Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
kann als neue Rechtfertigung dienen, anderen mit Geringschätzung zu begegnen und mitleidlos gegenüber ihren Schwächen und ihrer Gebundenheit zu sein. Rosen haben Dornen.«
»Ich verstehe nicht. Warum haben Rosen Dornen?«
»Damit du sie behutsam und sanft behandelst.«
Er verstand. »Aber eines Tages werden sie einstürzen, diese Mauern?«
»Natürlich. Eines Tages. Aber die Schöpfung wurde nicht an einem Tag verwirklicht, Anthony. Auch solche Mauern werden nicht über Nacht gebaut. Sie zu bauen dauerte seine Zeit, und es wird Zeit brauchen, sie wieder zu beseitigen. Die gute Neuigkeit ist aber, dass es dir ohne die Hilfe all dieser ›Freunde‹, die du jetzt von deinem Grund und Boden vertrieben hast, viel schwererfallen wird, die Fassaden aufrechtzuerhalten.«
»Ich?« Tony war überrascht. »Warum sollte ich sie behalten wollen?«
»Du hast diese Mauern gebaut, um dich zu schützen oder um dir einbilden zu können, du wärst sicher. Sie dienten dir als Ersatz für dein fehlendes Vertrauen. Du lernst jetzt allmählich, dass es ein beschwerlicher Weg ist, Vertrauen zu entwickeln.«
»Also habe ich diese Mauern gebraucht?«
»Wenn du glaubst, dass du selbst die einzige Person bist, der du vertrauen kannst, dann ja, dann brauchst du diese Mauern. Selbstschutzmaßnahmen, die dazu dienen sollen, das Böse auszusperren, sperren es oft gerade nicht aus, sondern mauern es in dir ein. Das, was anfangs ein Schutz zu sein schien, kann dich langfristig vernichten.«
»Aber brauche ich wirklich keine Mauern? Haben sie nicht auch ihr Gutes?«
Plötzlich trat jemand von hinten an ihn heran und umarmte ihn. »Du brauchst Grenzen«, sagte Jesus’ Stimme, »aber keine Mauern. Mauern trennen, während Grenzen Respekt und Achtung ausdrücken.« Tony fühlte, wie er sich in diese zärtliche Umarmung fallen ließ. Unerwartet brach er in Tränen aus.
»Sogar in unserer materiellen Schöpfung«, fuhr Jesus fort, »sind die schönsten Orte durch Grenzziehungen markiert. Denke an die Grenzen zwischen Ozean und Küste, zwischen Bergen und Ebenen, zwischen Talaue und Fluss. Wir werden dich lehren, dich gemeinsam mit uns an den Grenzen zu erfreuen, während du lernst, deinen Schutz und deine Sicherheit uns anzuvertrauen. Eines Tages wirst du keine Mauern mehr brauchen.«
Tony spürte, wie weitere seiner inneren Mauern einstürzten. Sie verschwanden nicht, aber er fühlte eine innere Gewissheit, dass er voll und ganz akzeptiert wurde, mit all seinen Fehlern und Verlusten, seiner Konditionierung und seinem Stolz. War das Liebe? Fühlte es sich so an, geliebt zu werden?
Großmutter sprach. »Okay, Weint-Viel, es wartet Arbeit auf dich, und wieder wird es Zeit, dass du dich auf den Weg machst.«
Jesus zog ein blutrotes Taschentuch für Tonys Nase und Tränen hervor und wischte ihm das Gesicht sauber.
Sie gelangten wieder in die verlassene Siedlung jener, die ihn getäuscht und belogen hatten. Tony interessierte sich dafür, wie sie errichtet worden war, und berührte eines der Häuser mit der Hand. Auf den ersten Blick wirkte es solide und dauerhaft, aber schon eine leichte Berührung genügte, um es in sich zusammenfallen zu lassen, sodass nur ein Haufen Schutt und Staub übrig blieb.
»Nichts als Fassaden«, sagte er laut zu sich selbst. »Lügen mit ganz wenig Substanz.«
Großmutter lächelte strahlend. »Es ist gut, die Veränderungen in deiner Stimme zu hören.«
»Was meinst du damit?«
»Wenn in der Seele eines Menschen eine Heilung geschieht«, sagte Großmutter, »verändert sich seine Stimme, was für alle deutlich wahrnehmbar ist, die Ohren haben, um zu hören.«
Und Jesus sagte: »Tony, ich habe etwas für dich. Du wirst es schon bald gut gebrauchen können.« Er hielt ihm einen großen Schlüsselbund hin, Dutzende von Schlüsseln in unterschiedlichen Größen und Formen.
»Was ist das?«, fragte er.
»Na, Schlüssel natürlich«, raunzte Großmutter.
Tony grinste. »Ja, das sehe ich. Aber wozu sind sie gut?«
»Um Schlösser aufzuschließen«, murmelte sie.
Er wusste, dass ihr dieses Ratespiel großen Spaß bereitete. »Welche Schlösser?«
»Türschlösser.«
»Welche Türen?«
»Alle Arten von Türen. Viele Schlüssel, viele Türen.«
»Ich gebe auf«, lachte Tony und wandte sich wieder Jesus zu. »Was soll ich damit tun?«
»Wähle einfach einen Schlüssel aus. Der, den du auswählst, wird zu einem späteren Zeitpunkt wichtig werden.«
Tony zögerte. »Ich soll einen Schlüssel auswählen? Was
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