Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
auf seinem Rücken zu urteilen, handelte es sich wohl um einen Stegosaurus. Lindsay lag nur halb unter der Decke. Ein jugendlich schlaksiges Bein baumelte über die Bettkante. Der sanfte und doch auch mühsam klingende Rhythmus von Lindsays Atem erfüllte das Zimmer.
Fast hätte Tony es nicht ertragen können. Viele Jahre waren vergangen, seit er zuletzt ein Zimmer in einer Kinderklinik betreten hatte. Er fühlte, wie er sich innerlich zurückzog, und kämpfte dagegen an. Zusammen mit seinen eigenen Gefühlen bestürmte ihn Maggies tiefe und heftige Zuneigung für diesen Teenager, was Tonys inneren Kampf noch mehr verstärkte. Und Maggie siegte. Er schaute wieder hin, schaute Lindsay an. Er lauschte auf ihren Atem, spürte die Atmosphäre in dem Krankenzimmer, alles so schrecklich vertraut für ihn.
»Es ist nicht fair.« Er flüsterte es leise, obwohl doch nur Maggie ihn hören konnte.
»Das ist wahr«, sagte sie ganz leise, um das schlafende Mädchen nicht aufzuwecken.
Er wollte etwas fragen, zögerte aber, weil er wusste, dass er in einen Interessenkonflikt geraten würde, je mehr er über dieses Mädchen wusste, je mehr persönliche Verbundenheit zu ihr entstand.
»Was sagtest du … welche Krankheit hat sie?«
»AML, akute myeolische Leukämie.«
»Das kann man doch behandeln, oder nicht?«, fragte er hoffnungsvoll.
»Fast alles lässt sich behandeln. Leider hat sie das Philadelphia-Chromosom.«
»Was ist denn das?«
»Dabei wird ein Teil des einen Chromosoms zum Teil eines anderen. Ich will versuchen, es dir zu erklären: Lindsay schläft hier in Zimmer 9. Am Philadelphia-Chromosom ist das Chromosom 9 beteiligt. Es ist, als würden Möbel aus Zimmer 22, dem Chromosom 22, in Zimmer 9 gestopft und nur ein Teil von Chromosom 9 wird in Zimmer 22 untergebracht. So ist dann letztlich nichts da, wo es hingehört. Und jetzt kommt die Ironie: Hätte Lindsay das Down-Syndrom wie Cabby, stünden ihre Chancen viel besser. Manche Dinge in diesem Leben ergeben einfach keinen Sinn. Je mehr man über sie nachgrübelt, desto weniger Sinn ergeben sie.«
»Und die Prognose?«, fragte er schließlich, obwohl er es eigentlich nicht wirklich wissen wollte. Wissen kann eine große Last sein, aber wenn die Last auf mehr Schultern verteilt wurde, wurde es vielleicht für alle leichter.
»Mit Knochenmarktransplantation, Chemo und so weiter liegt sie bei etwa fünfzig Prozent, aber die Sache mit dem Philadelphia-Chromosom reduziert die Heilungschancen noch einmal beträchtlich. Obendrein ist Lindsays Vater Mischling, was die Suche nach einem geeigneten Knochenmarkspender schwieriger macht, und der Vater selbst ist unauffindbar. Im Moment wird über eine Transplantation von Nabelschnurblut nachgedacht, aber auch dabei gibt es diverse Probleme. Um es auf den Punkt zu bringen: Wir brauchen ein Wunder.«
Schweigend saßen sie am Krankenbett. Maggie wachte über das Kind, als wäre es ihr eigenes, und betete still, während Tony mit dem Dilemma rang, vor dem er stand. In diesem Krankenhaus gab es viele Lindsays, und jedes dieser Kinder stand im Mittelpunkt der Liebe und Hoffnung einer mitleidenden Familie. War es nicht undenkbar, nur ein einziges von ihnen für die Heilung auszuwählen? War es da nicht besser, wenn er sich selbst heilte? Er hatte Beziehungen und Geld, er konnte eine Menge in der Welt bewirken, vielen Menschen Gutes tun. So viel hatte sich in ihm verändert. Würde Großmutter böse sein, wenn er diese Wahl traf? Sie würde ihn verstehen.
Es war ein Tauziehen. Immer wenn er sich fast entschieden hatte, sich selbst zu heilen, sah er wieder diesen kleinen Menschen, ein ganzes Leben voller möglicher Erfahrungen, das der Krieg, der in Lindsays Körper tobte, auszulöschen drohte. Es stand außer Frage, was er für seinen eigenen Sohn getan hätte, aber … das hier war nicht sein Kind.
»Können wir gehen?«, flüsterte er.
»Ja.« Maggie klang müde und resigniert. Sie stand auf, beugte sich über das Mädchen und legte ihm ihre Hände auf die Stirn. »Lieber Jesus, ich habe nicht die Macht, Lindsay zu heilen, darum bitte ich dich wieder um ein Wunder. Bitte heile sie! Ich vertraue dir, sogar wenn du dich dafür entscheidest, sie zu heilen, indem du sie zu dir nach Hause holst.« Sie wollte Lindsay küssen.
»Nicht!«, warnte Tony. Maggie hielt inne und legte stattdessen ihre Wange leicht wie eine Feder an Lindsays kahlen und wunderschönen Kopf.
Sie verließen die Hämatologie/Onkologie und gingen
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