Der Weg: Wenn Gott Dir eine zweite Chance gibt (German Edition)
konnte. Mit den Händen versuchte er, seine weinende Tochter zu erreichen, die nah und doch so fern für ihn war. Er weinte wegen all der vielen Verluste, wegen all des Schadens, den er angerichtet hatte. Seine Reue war eine gewaltige Bürde, aber er nahm sie an, stellte sich ihr.
»Vergib mir.« Seine Stimme versagte, er brachte die Worte nur mit großer Anstrengung heraus. Und dann war er verschwunden.
15
NAOS
»Unsere Herzen aus Stein werden zu Herzen aus Fleisch,
wenn wir lernen, wo der Außenseiter, der Verstoßene weint.«
Brennan Manning
T ony befand sich wieder bei der verlassenen Siedlung in der Nähe des Festungswalls, wo er vor kurzer Zeit seinen Kampf ausgefochten hatte. Er stand an der Stelle, wo der Pfad sich zweiteilte: Einer führte nach links zu der Siedlung, wo seine Lügengespenster gehaust hatten, der andere zu dem Gebäude, bei dem es sich angeblich um einen Tempel handeln sollte.
Er war fix und fertig, die Ereignisse und Emotionen, die gerade hinter ihm lagen, schienen ihn seine letzte Kraft gekostet zu haben. Die Worte »Vergib mir« lagen ihm noch auf den Lippen, und er fühlte ihre tiefe Wahrheit in seinem Herzen. Einsamkeit blies ihm ins Gesicht wie ein scharfer Gegenwind. Die Lügner mochten eine schlechte Gesellschaft gewesen sein, aber doch wenigstens Gesellschaft. Vielleicht erweiterte wahre innere Veränderung den Raum im eigenen Herzen, erzeugte Offenheit, die authentische Kommunikation ermöglichte. Inmitten von so viel Reue und Verlust spürte er doch die frische Brise von etwas Neuem, das auf ihn zukam und ihn mit Hoffnung erfüllte.
Aber immer noch war da dieses Gebäude am Ende des rechten Pfades. Er sah es in der Ferne, wie ein in die Felswand eingelassener Granitblock. Hätte es nicht so klare, eindeutig künstlich geschaffene Kanten gehabt, hätte man es für einen von oben herabgestürzten Felsbrocken halten können.
Ein Tempel? Was hatte er mit einem Tempel zu schaffen? Warum sollte ein solches Gebäude für ihn eine Bedeutung haben? Und doch fühlte er sich davon magisch angezogen, als berge es ein Versprechen. Aber mit dieser Erwartung war, deutlich spürbar, ein Gefühl der Angst verbunden, eine Beklemmung, die ihn lähmte, ihn davon abhielt, sich dem seltsamen Gebäude zu nähern.
War dies möglicherweise tatsächlich der Tempel Gottes? Des Vatergottes? Vermutlich nicht, denn Großmutter hatte gesagt, Gott befände sich draußen vor den Mauern. Dieses Gebäude aber lag innerhalb. Er konnte sich nicht vorstellen, dass Gott in einem solchen Haus hätte wohnen wollen, das keine Fenster hatte, und offenbar auch keine Türen, durch die man hineingelangen konnte.
So kam er nicht weiter. Die ständigen Fragen konnten kein Ersatz dafür sein, hinzugehen und selbst nachzuschauen. Großmutter hätte wohl gesagt: »Es ist an der Zeit.« Er zweifelte nicht daran, dass sie und Jesus bei ihm waren. Inzwischen wusste er, dass es an seinen eigenen inneren Blockaden lag, wenn er sie nicht sehen konnte.
»Dabei würde ich euch so gerne ein paar Fragen stellen«, murrte er, lächelte aber dann in sich hinein. Es schien, dass Gebete einfach Gespräche innerhalb einer Beziehung waren.
Tony bog also nach rechts ab, und bald zeigte sich, dass der Pfad durch ein ausgetrocknetes Flussbett führte. Einst musste hier eine Menge Wasser geflossen sein. Es musste genau dorthin geströmt sein, wo der Tempel stand, und war offenbar in der Felswand dahinter verschwunden. Seine Stiefel versackten in weichem Sand. Mit jedem Schritt wurde das Vorwärtskommen mühsamer. Die letzten hundert Meter waren eine Qual. Schließlich blieb er keuchend stehen und setzte sich hin, um sich auszuruhen.
Die körperliche Erschöpfung war nicht das Schlimmste. Viel schrecklicher war sein innerer emotionaler Aufruhr, der mit jedem Schritt zunahm. Alles in ihm schrie danach, umzukehren. Die positive Erwartung, die er vor dem Losgehen verspürt hatte, hatte sich verflüchtigt. Und nun erhoben sich Staubwirbel im Flussbett, die seine Sicht erschwerten.
Als er endlich die nächstgelegene Wand des Tempels erreicht hatte, heulte rings um ihn ein Sturm. Verzweifelt suchte er an der Wand etwas, woran er sich festklammern konnte, um sich gegen das immer heftigere Wüten des Sturmes zu behaupten. Aber sie war glatt und rutschig wie Glas. Er musste sich umdrehen und sich gegen die Wand lehnen, um sich vor dem Sand zu schützen. So weit er es sah und fühlte, gab es keine Tür, keinen Weg hinein. Er wusste nicht
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