Der Weg zum Glueck ist ausgeschildert
glücklicher. Alles, was mit Farben zu tun hatte, hat Geraldine zu Hause übernommen: Sie hat die Wände gestrichen, die Möbel abgebeizt, manche Möbelstücke hat sie bemalt. Wenn wir abends zusammensaßen, stickte oder strickte sie oder sie arbeitete an ihren Bildern. Ich habe ihre Bilder aufgehängt, weil ich sie schön finde. Eines ihrer letzten steht in der Scheune, es ist nicht schön, sondern düster.
Zu Wilhelm habe ich nicht Papa, sondern Wilhelm gesagt, zu Geraldine habe ich auch Mama gesagt. Warum, weiß ich nicht. Für Gespräche war sie immer meine Anlaufstelle. Wilhelm zeigt Emotionen lieber durch Gesten, aber er sagte häufig, dass wir als Familie glücklich und gesegnet sind.
Der Tag, an dem Geraldine starb, begann ganz normal. Es war der erste Schultag nach den Osternferien. Wilhelm, sie und Peter waren abends spät aus dem Urlaub zurückgekehrt. Wir hatten gemeinsam das Wohnmobil ausgeräumt, später aßen wir die mitgebrachte Salami und erzählten. Ich war nicht mitgefahren, weil ich anderthalb Jahre zuvor Charlotte kennengelernt hatte und froh war, zu Hause mal allein zu sein. Morgens verabschiedete mich Geraldine ohne jede Auffälligkeit, doch als ich ins Schulsekretariat gerufen wurde, ahnte ich gleich, dass etwas Fürchterliches passiert war. Zu Hause war bereits die Kripo, alles war in Aufruhr. Es war eine sehr unwirkliche Situation. Eben hatte Geraldine noch Schulbrote geschmiert, und jetzt wurde sie im Sarg aus dem Garten getragen. Man kann es nicht fassen, dass jemand so plötzlich weg ist, aber ich war auch zornig: Wie kann sie uns alleinlassen? Vorwürfe habe ich ihr jedoch nur in kurzen Momenten gemacht, weil ich überzeugt bin: Es war nicht meine Mutter, die sich den Strick um den Hals gelegt und das Leben einfach weggeworfen hat. Die Krankheit hat sie dazu getrieben. Sie war in diesem Moment nicht bei sich, hat den Übergang vom stressfreien Urlaub in den normalen Alltag einfach nicht mehr geschafft.
Wir sind mit Geraldines Freitod sehr offen umgegangen. Jedem, der fragte, haben wir es erzählt. In der ersten Zeit kreisten wir immer wieder um die Fragen: Warum hat sie diesen Weg gewählt? Und weshalb haben wir auf ihre Selbstmordgedanken nicht mehr reagiert? Vielleicht waren wir blind, weil sie unsere Mutter war. Geraldine war in den letzten Jahren immer nachdenklicher geworden. Als wir das Alter hatten, in dem sie mit uns ernsthaft sprechen konnte, hat sie auch oft gesagt: »Ich bin nicht glücklich. Ich habe Angst. Wie machen wir das in Zukunft?« Wir haben sie dann in den Arm genommen, ihr gesagt, wie sehr wir sie lieben, wir sahen, dass es ihr besser ging, je mehr sie unsere Nähe spürte, auf dem Sofa saßen wir Schulter an Schulter. Dass sie anders war als andere Mütter, spürte ich sehr früh, dass sie krank war, habe ich erst mit 16 wahrgenommen. In diesem Alter verstand ich, dass sie nicht nur besonders, sondern oft tief unglücklich und so verzweifelt war, dass sie auch vor uns von Selbstmord sprach. Doch wie kann man das ernst nehmen, wenn jemand so viel Liebe ausstrahlt und nicht mal imstande ist, einen verletzten Vogel einzuschläfern? Sie rang um jedes Lebewesen, hat uns immer vermittelt, dass Leben ein Geschenk ist. Ich wusste zwar, dass Geraldine eine Psychose hat, aber was sie durchgemacht hat, habe ich erst erfasst, als mein jüngerer Bruder vor einigen Jahren ebenfalls an einer Psychose erkrankte. Er beschrieb mir, wie es ist, wenn man nichts empfindet, keine Freude, keinen Sinn, wenn man sich wie eine leere Hülle fühlt. Man fühlt nichts außer der Verzweiflung, dass es nicht besser wird.
Nach ihrem Tod haben Wilhelm, Peter und ich in einem Raum nebeneinander geschlafen, uns nachts auch an der Hand gehalten. Peter war zunächst sehr nüchtern, er hat kaum geweint, ich denke, er stand unter Schock, er war ja dabei, als Wilhelm Geraldine fand, da sein Schulunterricht an diesem Tag später begann. Doch so schlimm und surreal alles war, es war auch eine der schönsten Wochen. Wunderbar war, dass meine Oma und mein Opa und Wilhelms Bruder und Schwägerin sofort kamen, ein Tag nach Geraldines Tod stand ein Onkel aus Washington in der Tür. Es fängt einen sehr auf, wenn viele Menschen die Trauer teilen. Nach der Beerdigung redet man ja auch über andere Themen, man trifft Leute, die man lange nicht gesehen hat, erfährt, was in der Zwischenzeit geschehen ist, man merkt, dass das Leben weitergeht. Fast alle haben gesagt: Es war eine so helle Beerdigung, die
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