Der Weg zum Glueck ist ausgeschildert
Geraldines Wesen entsprach. Das hat mir sehr geholfen.
Nach anderthalb Wochen gingen wir wieder zur Schule. Ich war froh, als unser Leben wieder normaler wurde, ich war froh, dass Charlottes Familie mich mit so viel Wärme aufnahm, ich hatte die Nähe zu Charlotte und dadurch einen Riesenvorteil gegenüber Wilhelm und Peter. Charlottes Mutter ähnelte in vielem Geraldine. Wenn sie einen Raum betrat, war Freude da. Selbst in den letzten Monaten ihrer Krankheit hatte sie Lichtmomente, in denen sie sich mit großer Warmherzigkeit auf Menschen einließ und ihnen zuhörte. So war es auch bei Geraldine gewesen, man konnte in ihrer Gegenwart keine schlechte Laune haben.
Ich will Geraldine so in Erinnerung behalten, wie sie war, wollte ihren Leichnam nicht mehr sehen. Ich glaube nicht an ein Jenseits. Aber ich denke, dass Menschen Spuren in der Natur hinterlassen. Charlotte und ich haben es als ein Zeichen genommen: An Geraldines Todestag ging eine japanische Kirsche, die in unserem Garten in jenem Sommer besonders üppig blühte, binnen eines Tages ein, der Baum warf die Blüten einfach ab. Und am Tag, als Charlottes Mutter starb, flog ein Schmetterling ständig um uns herum, als wir wieder nach Hause kamen. Vielleicht ist es ein Zufall, aber es passt einfach zu den Menschen, die von uns gegangen sind.
Charlotte und ich kennen uns aus der Schule. Nachdem ich im Gymnasium sitzengeblieben war, wechselte ich auf die Gesamtschule, die mir viel mehr lag. Es gab viele Ausländer, die Schüler kamen aus unterschiedlichen Schichten. Der Unterricht war individueller; gleichzeitig hatte jeder die Chance, die ganze Klasse nach vorne zu bringen. Auch meine beiden besten Freunde sind ehemalige Klassenkameraden. Der eine ist Handwerker, der andere Optiker. Mit Freunden von früher ist es unkomplizierter, man macht sich keine Gedanken, wie man sich gibt, braucht keine Aufwärmphase, wenn man sich mal länger nicht gesehen hat. Es ist nicht so, dass ich Menschen abscanne, ich merke jedoch schnell, ob sich jemand von Gefühlen leiten lassen kann. Nahe sind mir eigentlich nur gefühlsbetonte Menschen, wobei ich es verabscheue, wenn man in Selbstmitleid verfällt statt eine unbefriedigende Situation zu ändern.
Nach Gießen sind Charlotte und ich gegangen, weil wir dort beide einen Studienplatz bekamen, sie für Biologie, ich für Veterinärmedizin. Bezüglich meiner Berufswahl haben meine Eltern nie Erwartungen geäußert. Sie waren höchstens Ideengeber, keine Richtungsweiser. Das einzige, wozu sie uns rieten: »Macht das Abitur, damit ihr, wenn ihr wollt, studieren könnt.« Wilhelm hat mich nie in Richtung Tiermedizin gedrängt, doch ich fand seine Berufssituation immer ideal. Durch die Praxis im Haus war sein Beruf mit dem Familienleben verschmolzen, er war immer greifbar in Momenten, wo es für uns wichtig war. Ich hätte mir gut vorstellen können, in seine Praxis hineinzuwachsen, doch das Studium war mir zu praxisfern, ähnlich wie auf dem Gymnasium konnte ich mich mit dem elitären Denken unserer Professoren nicht anfreunden, die letzten beiden Studienjahre hatte ich mich nur noch gequält. Als ich durch das zweite Staatsexamen fiel, war ich zunächst verzweifelt. Man steht vor den Trümmern eines langen Studiums und weiß nicht, wie es weitergehen soll, hängt völlig in der Luft. Damit ich die Prüfung vielleicht noch einmal wiederholen kann, ließ ich mir bescheinigen, dass ich zu dem Zeitpunkt nicht prüfungsfähig war.
Als ich mich entschieden hatte, das Studium erst einmal ruhen zu lassen, war ich sehr erleichtert. Ich habe mir gesagt, der Beruf hätte mir sehr gelegen, aber ich muss akzeptieren, dass der Weg dahin nichts für mich ist. Ich wollte nicht mehr nur auswendig lernen, die dreijährige Assistenzzeit schreckte mich. Explizit habe ich Wilhelm nie mitgeteilt: »Mit der Tiermedizin klappt es nicht mehr.« Obwohl er oft gesagt hat: »Wenn du nicht willst, lass das Studium sein«, und er natürlich merkte, dass ich meinen Schwerpunkt immer mehr verlagerte. Ich will ihn nicht enttäuschen und lasse ihm und mir eine Hintertür offen. Auch wenn der Studienabschluss mich in seiner Sicht nicht ausmacht, bohrt in mir schon das Gefühl, gescheitert zu sein. Ich war nicht in der Lage, mich nur auf das Studium zu konzentrieren und alles andere auszuklammern, da mir andere Dinge ebenso wichtig waren. Ich habe gearbeitet, um Ausgaben wie mein Auto zu finanzieren, ich wollte etwas mit Freunden unternehmen, mit Charlotte reisen,
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