Der Weg zum Glueck ist ausgeschildert
Gefängnisstrafe absaß. Die Besuchserlaubnis war eine große Ausnahme, aber meine Eltern waren gegen diese Freundschaft und hätten mir die Fahrkarte nicht bezahlt. Aus irgendeinem Grund hatte ich es nicht geschafft, dem Freund abzusagen.
Es war der erste warme Tag im Jahr. Ich bin mit Freunden mit den Motorrädern baden gefahren. Wir liefen ins Wasser, waren wohl ein bisschen übermütig, ich habe mich ins Wasser gehechtet und bin mit dem Kopf auf den Grund gestoßen. Ich hörte es knacken und merkte, dass ich mich nicht mehr bewegen konnte. Wenn ich allein gewesen wäre, wäre ich ertrunken. Als ich auf der Bahre fixiert wurde, war mein erster Gedanke, dass ich am nächsten Tag eine Hausarbeit abgeben musste, die ich noch nicht mal angefangen hatte. Ich war bei vollem Bewusstsein und dachte, ich lege mich ins Krankenhaus und kann in aller Ruhe die Hausarbeit schreiben, bis ich wieder hergestellt bin.
Die Diagnose lautete: Inkomplette Querschnittslähmung, sechster Halswirbel. Die Ärzte sagten zu meinen Eltern: »Wenn Ihr Sohn wieder einige Stunden am Tag sitzen kann, haben wir viel gewonnen.« Meine Mutter ist schlagartig um zehn Jahre gealtert. Die Ärzte haben die Prognose meinen Eltern mitgeteilt, nicht mir. Für mich wäre der Befund zu diesem Zeitpunkt sicher eine Katastrophe gewesen. Ich hatte in den Beinen ein taubes Gefühl, konnte sie nicht bewegen und vertraute darauf: Das wird schon wieder! Das erste Gewicht, das ich wieder heben konnte, war eine Zeitung. Das war nach etwa vier Wochen. Nach der Arbeit fuhren meine Eltern jeden Abend 20 Kilometer zu mir ins Krankenhaus, um mich zu waschen, mir Obst zu bringen, um jeden Fortschritt mitzuerleben. Meine Geschwister sind damals hoffentlich nicht zu kurz gekommen.
Auch meine Freunde waren sehr stark, haben mich gezogen. Um mein Bett standen ständig zehn Personen, ich musste die Besucher regelrecht einteilen. Sie haben mir von ihrem ganz normalen Leben erzählt: Welche Liebschaften sie hatten, wer ein neues Auto besaß und was sie im Kino gesehen hatten. Ihre Erlebnisse haben mich von meiner Situation abgelenkt. Ich war für sie weiterhin der Steffen, den sie kannten, und nicht in erster Linie ein Schwerstbehinderter. Meine Freunde haben mich im Rollstuhl zu den alten Cliquentreffs mitgenommen, auch Stufen hochgetragen, denn im Osten gab es ja keine Barrierefreiheit. Mitleid bekam ich überhaupt nicht zu spüren. Sie haben mich nie in Watte gepackt. In ihrer Gesellschaft habe ich mich meist stark gefühlt. Ich dachte zu dem Zeitpunkt noch: Ich zeig’s euch, ich werde wieder laufen lernen.
Aber es gab auch Momente, in denen ich verzweifelt war. Ich habe oft geweint und gebetet, dass es wird wie vorher. Ich habe gebetet, obwohl ich nicht gläubig bin. Einmal war ich nachts allein im Zimmer, neben mir stand ein Glas. Ich überlegte kurz, ob ich es zerschlage und mir die Pulsadern aufschneide. Es war ein Zeitpunkt, wo ich das Gefühl hatte, es geht nicht weiter. Meine Zukunft schnurrte zusammen auf ein Bild: Ich in diesem schweren Rollstuhl aus Metall– ein Leben lang.
Den Mauerfall im Herbst ’ 89 habe ich ja im Krankenhaus erlebt. Für mich war die Wende damals weit weg. Vielleicht hatte das auch mit meiner Erziehung zu tun. Unsere Familie hatte keine Westkontakte, kein Westfernsehen, Westprodukte gab es bei uns nicht. Ich hatte nicht mal richtige Jeans. Ich war ein Udo-Lindenberg-Fan, doch bei diesem Thema war mit meinem Vater der Streit vorprogrammiert. Wenn die Krankenschwestern von ihren Reisen in den Westen erzählten, dachte ich: Hundert Mark Begrüßungsgeld, na und? Ich will laufen können!
Meine dauerhafte Behinderung wurde für mich erst real im Rehabilitationszentrum in Berlin-Buch. Kurz vor meiner Entlassung aus dem Krankenhaus war eine Ärztin abends in mein Zimmer gekommen und hatte gesagt: »Herrn Köhn, Ihr Leben wird im Rollstuhl weitergehen.« Ich schob das erst einmal fort und tröstete mich: Das sagt sie jedem. Es wurde ja auch noch das Laufen trainiert.
Im Rehazentrum sah ich dann, dass es gar nicht so schlimm ist, im Rollstuhl zu sein. Ich tauschte mich mit anderen aus, konnte mich offen unterhalten über Inkontinenz, Sexualität, Rollstuhltechnik und praktische Dinge: »Wie gehst du einkaufen?« Da die medizinische und berufliche Rehabilitation zusammengeschlossen waren, gab es viele, die Erfahrungen weitergeben konnten. Jeder Fortschritt war Freude, Glück. Spätestens nach zwei Jahren weiß man jedoch, dass die Nervenbahnen
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