Der Weg zur Hölle
können.
Ich beeilte mich, zu ihm herab zu kommen und schob ihn, meinen enormen Ekel vor Menschenmassen überwindend, blitzschnell aus dem Pulk der Schaulustigen heraus. Dabei entschuldigte ich mich unentwegt, obwohl mir klar war, dass mich Koss in seinem momentanen Zustand nicht verstehen konnte. Und getan hatte er sich natürlich auch nichts: Was soll ein Sturz jemandem anhaben, der keinen Körper hat?
Ich schob ihn weiter und weiter, bis zu einem Haus an einer Straßenecke, dann hinein zu den Kellern, wo ich mir den am weitesten abgelegenen Verschlag aussuchte, der zu finden war. Dort endlich ließ ich Koss los. Er schrie immernoch, aber — vielleicht bildete ich mir das auch nur ein — etwas leiser.
Wir wissen nichts über die Zeit des Frühnachtodes. Die Mauer, die unser Bewusstsein um diese Zeit baut, ist später nicht mehr zu durchdringen. Vielleicht hätte es Koss gar nichts ausgemacht, in der Badewanne des Herrn Meyer stehenzubleiben, zwischen Dreck und Untersuchungsbeamten. Vielleicht wären ihm Tag, Nacht, Lärm und Gestank einfach egal gewesen. Ich wusste es nicht. Aber ich konnte mir gut vorstellen, dass ihm die Ruhe und Dunkelheit eines Kellerverschlages gut tat. Wie auch immer: Ihn hier allein zu lassen, stellte für mein Gewissen ein weitaus geringeres Problem dar, als dort, wo ich ihn gefunden hatte.
Einige Minuten später war ich wieder auf der Straße und schüttelte mich erstmal. Es hat schon seinen Grund, warum wir Neugeistern nicht zu nahe kommen. Wenn zwei Geister sich berühren, findet fast unvermeidbar ein heftiger Austausch von Bildern und Gefühlen statt. Dagegen kann man sich zwar mithilfe einer Gedankenbarriere schützen, aber die erfordert ein hohes Maß an Konzentration und das hatte mir in der Hektik nicht zur Verfügung gestanden. Ein kleiner Teil der konfusen Ängste und Gedanken, die Koss gerade ausfüllten, war auf mich übergegangen. An Angst bin ich eigentlich gewöhnt, aber hier handelte es sich um das Gefühlschaos eines Neugeistes. Sowas ist wie eine Reihe bösartiger Stromschläge. Vielleicht liegt da der wahre Grund, warum wir Neulingen aus dem Weg gehen, bis sie wieder bei Verstand sind.
Irgendwann flog ich in Meyers Wohnung zurück.
Der Kopf sowie der Hausherr waren abtransportiert worden. Dafür stand ein kleiner untersetzter Mann im Zimmer und brüllte Reemund an.
»Was denken Sie sich? Sie sind suspendiert, Reemund! Suspendiert! Was haben Sie zu Ihrer Verteidigung vorzubringen?«
»Wofür soll ich mich denn verteidigen, Herr Staatsanwalt?«, brummte Reemund in seinen Kaffee.
Ich war mir sicher, das wusste er ganz genau, aber vielleicht war ihm der andere noch nicht wütend genug.
»Das fragen Sie noch? Das fragen Sie noch? Sie dämlicher Idiot!«
Der Kommissar schwieg.
»Das mit dem Kopf, Sie Nachgeburt! Wissen Sie, was ich da unten auszuhalten hatte, weil Sie den Kopf von Eduard Koss wie auf einem Präsentierteller für die Medien hingehalten haben?«
»Haben die etwa keine guten Fotos hinbekommen?«
»Sie wissen doch genau, wie scheinheilig Presseheinis sind. Machen begeistert Fotos und bombardieren mich dann mit Fragen, warum die Polizei so pietätlos ist! Und wofür das Ganze? Weil der Herr Hauptkommissar heute noch nicht genug Mist gebaut hat?«
»Das war ganz normale Polizeiarbeit. Die ist nicht immer pietätvoll, und ich musste mir ein Bild von der Lage machen.«
Reemund sagte das in einem Ton, als rezitiere er unbegabt aus einem Lehrbuch. Der Staatsanwalt trat dicht an ihn heran, und seine Stimme wurde gefährlich leise.
»Reden Sie nicht mit mir, als ob ich ein Schuljunge wäre. Es ist mir egal, warum Sie das gemacht haben. Sie sind ohnehin suspendiert nach der Prügelei auf dem Bürgermeisterempfang. Machen Sie sich auf eine Anzeige wegen Körperverletzung seitens des Sternekochs gefasst. Ich werde den Strafantrag gern annehmen. Und jetzt frage ich mich, was Sie hier noch wollen.«
»Der Kaffee ist gut«, sagte Reemund und sah dem anderen ungeniert in die Augen. Der Staatsanwalt runzelte die Brauen, kam ein wenig näher und schnupperte ein paar Mal.
»Sagen Sie mal, Reemund. Haben Sie getrunken?«
»Kriege ich dann mildernde Umstände?«
»Sind Sie jetzt komplett übergeschnappt?«
»In dem Fall«, sagte Reemund und wandte sich zum Gehen, »bin ich vollkommen nüchtern.«
Er war schon fast an der Tür, als die Polizistin namens Schilling herein gestürzt kam.
»Chef hören Sie …«
Aber Reemund unterbrach sie sofort. »Ich höre
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