Der Weg zur Hölle
empirisch belegt zu betrachten? Braucht man dafür zehntausend Menschen, die zusammen zweihundertzehn Kilogramm Seele absondern?
Woraus auch immer dieses merkwürdige Etwas besteht, das einen nach dem Tod verlässt: eine per Waage bestimmbare Masse hat es ganz sicher nicht. Aber was hilft es, das zu wissen? Auch ganz ohne Gewicht macht einem dieses unbenennbare Ding gehörig zu schaffen.
Ich bin natürlich nicht die ganze Nacht vor dem Bett stehen geblieben. Irgendwann reichte es, einem fetten, schnarchenden Mann und seiner Freundin beim Schlafen zuzusehen. Aber wohin mit mir? Normalerweise hätte ich mich jetzt an einen meiner üblichen Ruheplätze zurückgezogen, in ein Museum oder eine Galerie, irgendwo hin, wo die Luft sauber ist und Stille herrscht. Aber irgendetwas war mit mir geschehen, da in Marzahn. Auch wenn ich keine Ahnung hatte, was, ich merkte, dass mir heute zum Auspendeln — was bei mir wörtlich gemeint ist — und Gedanken ordnen die Ruhe fehlen würde.
Ich flog zurück nach Marzahn zur Allee der Kosmonauten. Der Trubel war verebbt. Die meisten Reporter und Schaulustigen waren gegangen und auch in der Wohnung des Tatverdächtigen arbeitete nur noch eine Handvoll Leute. Ich flog weiter, direkt in den Kellerverschlag.
Der Geist von Eduard Koss stand immernoch da wie vorher. Immerhin hatte er zu Schreien aufgehört, was seine Nähe für mich weit weniger schrecklich machte als noch vor ein paar Stunden. Offenbar hatte ich recht behalten: Ein Ambiente, das kaum Sinnesreize ausstrahlt, wirkt auch auf Neugeister beruhigend.
Den Rest der Nacht verbrachte ich bei Koss, hielt aber Abstand zu ihm. Das alles war mir noch nicht geheuer. Bei uns erzählt man sich viele Gruselgeschichten über den Kontakt mit Neugeistern. Und obwohl wir wissen, dass solche Erzählungen Humbug sind, tun wir alle so, als würden wir daran glauben. Vielleicht stimmt das eine oder andere ja auch. Sicher ist nur, dass solche Legenden ein wunderbares Alibi dafür sind, Neugeistern aus dem Weg zu gehen, bis ihr Bewusstsein in der Geisterwelt angekommen ist. Der Anblick des frühen Nachtodes ist abstoßend, wir können nicht wirklich helfen und warum sollte es jemand anderem besser gehen, als einem selber?
Ich gebe zu, ich dachte eigentlich genauso, zumal bei mir obendrein die Angst vor Verseuchungen durch alles Mögliche hinzu kam. Aber vorhin, im Eifer des Gefechts, hatte ich einen Neugeist berührt. Es war ein widerliches Gefühl, das will ich nicht bestreiten, aber mein Handeln schien tatsächlich etwas bewirkt zu haben. Koss hatte sich eindeutig beruhigt.
Ich ging dichter an ihn heran und sah ihm mitten ins Gesicht, das leer war, als wäre er ein abgeschalteter Roboter, oder einer, dem noch kein Programm eingepflanzt worden war. Ich wusste nicht, ob Koss ein gutes oder schlechtes Leben gelebt hatte, wie immer man so etwas auch definiert, aber ich konnte nicht anders: Er tat mir leid. Oder vielleicht tat ich mir auch selbst leid. Wer einmal eine Trauerfeier besucht hat, weiß, dass dieser Unterschied ohnehin keine große Rolle spielt.
Mir schoss ein Gedanke durch den Kopf. Vielleicht konnte ich Koss etwas geben, das mir und so gut wie allen Geistern vor mir verwehrt geblieben war: Das Wissen darum, wie er hieß, wer er war und warum er hatte sterben müssen.
*
»Es ist mir zu laut heute, sagte Hauptkommissar Wedelbeck und pustete in seinen Kaffee, von dem ein merkwürdig metallischer Geruch ausging. »Normalerweise mag ich Straßenlärm. Immer, wenn wir bis weit in die Nacht irgendwelche grausamen Tathergänge rekonstruieren, und ich denke, jetzt müsste eigentlich die Welt stehen bleiben, hänge ich für ein paar Minuten den Kopf aus dem Fenster und weiß wieder, dass immernoch alles so ist wie vorher. Verstehen Sie?«
Es war bereits nach zehn Uhr, der Tag war trübe und ich hockte im Polizeipräsidium in der Keithstraße, erstes Obergeschoss, Morddezernat. Wedelbeck stand in einem kleinen, spärlich möblierten Raum und starrte zum Fenster hinaus. Hier drin konnte man offenbar Verhöre verfolgen, denn auf einem kleinen Tisch stand ein Monitor und daneben zwei Lautsprecher samt digitalem Aufnahmegerät. Auf dem Bildschirm war Hans-Jochen Meyer zu sehen, der allein in einem anderen Zimmer saß und zitterte.
Neben Wedelbeck stand eine Frau, die es sich zur Aufgabe gemacht hatte, ihre faszinierend hagere und hochgewachsene Gestalt durch die Kleiderauswahl noch zu betonen. Sie mochte vierzig sein und bewegte ihre langen
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