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Der Weg zur Hölle

Der Weg zur Hölle

Titel: Der Weg zur Hölle Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Kaspar Dornfeld
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bleibt immer ein kleines schwarzes Loch zurück, etwas, von dem wir wissen, dass es da war und nie wiederkommt. Die Einen quält das mehr, die Anderen weniger, aber dieses Defizit haben wir alle.
    Ich war zum Beispiel einer von denen, die ein großes Problem damit hatten. Das erste Jahr meiner Geisterexistenz habe ich mit dem Versuch vergeudet, herauszufinden, wer ich war und warum ich gestorben bin. Ein paar Dinge habe ich sogar erfahren. Ich weiß zum Beispiel, dass mich der Tod um den neunten November 1989 herum in Westberlin ereilt hat und dass ich vorher wahrscheinlich im Ostteil der Stadt gelebt habe. Das erste weiß ich, weil ich Tage später in einer Gasse in Berlin Wedding aufgewacht bin, und dies in der Regel genau da passiert, wo wir gestorben sind. Das zweite vermute ich, weil mir die Berliner Mauer, die damals noch stand, bei meinen ersten Geisterstreifzügen im Ostteil mit ihrer blanken Betonfassade weitaus vertrauter zu sein schien, als die Westseite mit ihren unzähligen Straßenkunstbildern. Das war es dann auch schon. Nach einem Jahr wusste ich weder, warum ich gestorben war, noch, ob jemand über meinen Tod getrauert hatte. Aber es dauerte relativ lange, bevor ich endgültig aufgab. Andere, die ungefähr zur gleichen Zeit ihren Körper verloren hatten wie ich, waren schon längst in ihre neue Existenzform hinein gewachsen, während ich immernoch durch die Berliner Friedhöfe streifte, in der blödsinnigen Hoffnung, einen Grabstein mit meinem früheren Namen drauf zu finden.
    Das Schlimmste daran ist, dass ich ihn sogar gefunden haben könnte — ohne es zu bemerken.
    Normalerweise verlässt ein Geist seinen Körper recht schnell, ungefähr fünf bis zehn Minuten nach Einsetzen des klinischen Todes. Von dieser Regel gibt es nur eine Ausnahme, und zwar dann, wenn der Kopf vor der Ablösung des Geistes abgetrennt wird, oder natürlich der Tod selbst durch Enthauptung eingetreten ist. Mir hat mal jemand versucht, die komplizierten Vorgänge im Körper zu erklären, die dafür verantwortlich sind, aber ich habe es nicht verstanden. In diesen Fällen klebt der Geist manchmal noch über Stunden im Kopf fest, ganz einfach weil er sich aus dem am schwersten ablöst.
    Genau das musste im Fall von Eduard Koss passiert sein. Anderenfalls hätte sein Geist an dem Ort sein müssen, wo er gestorben war, denn wenn ich die Polizisten richtig verstanden hatte, war das nicht hier in dieser Wohnung gewesen. Doch hier stand Koss, in der von schwarzem Schimmel umrandeten Badewanne und schrie die Wand an. Er wirkte jünger als der Kopf auf dem Balkon vermuten ließ, wofür es einen ganz einfachen Grund gibt: das Restselbstbild. Bei den meisten Menschen besteht es aus einer verjüngten Version des Ichs. Man ist zum Beispiel fünfzig, hat sich in puncto Kultiviertheit, Kleiderauswahl und Auftreten dem Alter angepasst. Man glaubt sich womöglich sogar selbst, wenn man andere die eigene Reife spüren lässt. Und doch hinkt das Selbstbild der Realität um mindestens zehn bis zwanzig Jahre hinterher. Die einzigen Ausnahmen von dieser Regel sind Kinder und Selbstmörder. Die halten sich meist für älter als sie sind.
    Koss' Geist wirkte nicht älter als dreißig, während der Kopf auf dem Balkon zu einem Mann gehört hatte, der deutlich über fünfzig war.
    Ich hätte ihn einfach stehenlassen können. Das wäre das Übliche gewesen. Man überlässt den Geist sich selbst, irgendwann wacht er auf und passt sich an. Es ist kein Fall bekannt, bei dem das nicht funktioniert hätte.
    Bis heute ist mir nicht klar, was mich eigentlich ritt. Aber mir war einfach nicht danach, dieses vor Wahnsinn schreiende Geschöpf hier stehen zu lassen, zwischen Schimmelrändern und vergilbten Fliesen, in der Wohnung seines vermeintlichen Mörders, in der überall hektisch Leute herum liefen.
    Ich packte den Geist und schob ihn kurzerhand durch Türen und Wände, über den Balkon raus aus der Wohnung, während er ununterbrochen weiter schrie, ohne mich überhaupt zu bemerken.
    Kaum hatten wir keinen festen Boden mehr unter den Füßen, fiel er prompt alle sechs Stockwerke nach unten, schlug auf dem harten Beton des Fußweges auf und brüllte weiter. Ich verfluchte mich selbst und schlug mir mit der Hand gegen die Stirn. Koss' Bewusstsein war noch nicht in der Lage, die Bedeutungslosigkeit der Schwerkraft für Geister zu begreifen. Darum war er einfach genauso gefallen, wie es jemand mit einem Körper getan hätte. Das hätte ich wirklich wissen

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