Der Weg zur Hölle
heute ein wenig auspendeln lassen zu können. Dem Geräusch nach zu urteilen, musste es gegen drei Uhr früh sein.
Ein paar Wochen nach meinem Tod hatte ich bemerkt, dass ich nachts, wenn der Stadtlärm nachließ, einen leisen Pfeifton hörte, ein bisschen wie der in die Unendlichkeit gestreckte Schrei einer Eule. Zunächst dachte ich, ich hätte einen Tinnitus. Das machte mir eine Heidenangst. Erst Tinnitus, dann Hörsturz, dann Schlaganfall. Die Stimme der Vernunft, die mir immer zuflüsterte: »Du bist schon tot, du bist schon tot!« drang nicht bis zu mir durch.
Jahre später, als ich meine Angst vor Schlaganfällen längst überwunden hatte, trafen mein Therapeut und ich einmal auf eine Gruppe von ungefähr zehn Geistern, die sich rasend schnell hin- und herbewegten. Ich fragte ihn, was das denn sein solle, und er erklärte mir, wir hätten es hier mit sogenannten Hohlgeistern zu tun. Die würden unter der Gespenstervariante eines Hirntumores leiden. Dabei wüchse jedoch kein artfremdes Gewebe , sondern das energetische Feld des nicht materiellen Geistergehirns verschwände einfach. Ein typisches Symptom dafür sei der Verlust jeden Zeitgefühls. Daher die schnelle Bewegung. Die Gespenster würden ihr eigenes Tempo wahrscheinlich nicht einmal bemerken. Als er sah, dass ich zu zittern begonnen hatte, kam er ganz dicht zu mir ran, grinste dümmlich und fragte leise, ob ich ihm diesen Mist wirklich glauben würde. Hirntumore bei Geistern seien Schwachsinn. So etwas wie Hohlgeister gebe es nicht. Er habe auch keine Ahnung, warum die Geister sich so schnell bewegten. Vielleicht probten sie einfach ein merkwürdiges Ballett. An dem Tag fragte ich ihn zum ersten Mal, ob er wirklich Therapeut sei. »Keine Ahnung«, war die lapidare Antwort. Ich brauchte ein halbes Jahr, um die Angst vor Hirntumoren aus meinem Denkapparat zu kriegen.
Zurück zum Pfeifen.
Es dauerte ewig, bis ich die wahre Herkunft dieses Geräusches begriffen hatte: Ich hörte die Stadt — ihr ureigenes Geräusch. Tagsüber verdeckt, aber nachts, von drei bis fünf Uhr, ist es deutlich zu hören. Die nur noch sparsamen Lebensgeräusche im unentwirrbaren Dickicht von Hauswänden und Straßen millionenfach hin- und hergeworfen, bis sie sich zu einem einzigen, langen, immer gleichen Pfeifen verdichtet haben.
Inzwischen liebe ich den Ton von Berlin. Manchmal, wenn es mir schwerfällt, zur Ruhe zu kommen, stelle ich mich irgendwo hin und umsinge ihn. Das klappt meistens. Aber eben nicht immer — wie in jener Nacht zum Beispiel.
Als ich auf das Dach kam, war ich ausgesprochen mieser Stimmung.
Was war nur mit mir los?
Ich versuchte zunächst, meine verqueren Gedanken zu ignorieren und begann mein übliches Ritual. Die Arme dicht an den Körper und dann langsam schwingen, erst nach links, dann nach rechts, immer wieder, bis ich wie ein langsames Pendel war. Ich hob ein wenig vom Boden ab und lauschte auf den Ton. Die Gedanken wollten nicht verschwinden. Böse Gedanken, hässliche Gedanken. Ich fing an zu singen. Erst auf dem Grundton der Stadt, dann höher, bis zu einer Quinte darüber. Zwecklos. Es half nichts. Ich begann zu zittern. Langsam ließ ich mich zurücksinken und öffnete mich, so weit ich konnte, meiner widerlichen Stimmung. Wenn ich sie schon nicht loswurde, musste ich mitten hinein.
Das Schicksal lachte über mich! Nun ja, nicht über mich allein, vielmehr über uns alle. Weit unter mir lagen zwei tote Menschen, der eine von einer Not gepeinigt, die er nicht im Mindesten zu begreifen vermochte, der andere ein hilfloses kleines Kind mit den Proportionen eines Erwachsenen und zu guter Letzt ein Hund, der nie verstehen würde, was mit ihm geschehen war. Ich selbst war letzten Endes auch nicht besser dran. Der große, dicke Erdmagnet hatte mich in dieser merkwürdigen Welt mit nichts zurückgelassen, als einer unkontrollierbaren Anzahl von Phobien und gerade so viel an Erinnerung an mein früheres Leben, dass ich nicht mehr wusste, wer ich gewesen war. Ein weiteres namenloses Opfer eines weiteren sinnlosen Verbrechens, vielleicht betrauert, vielleicht auch nicht, letztendlich vergessen und nicht einmal mit genug Phantasie gesegnet, sich einen besseren Namen als Kaspar Dornfeld auszudenken! Und keiner hatte auch nur die geringste Ahnung, wozu das alles gut sein sollte.
Man bleibt, solange man will, und wenn man genug hat, bringt man sich einfach um. Denn das ist der einzige Weg hier raus: Willentliche Selbstauflösung. Zumindest bei den
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