Der Weg zur Hölle
Geistern, die einen Willen haben. Bei den anderen geschieht es irgendwann von allein.
Was danach kommt? Eine neue Bewusstseinsform oder das schlichte Ende? Keiner weiß es. Wir sind genau so unwissend, wie die Lebenden, voll religiösem Wahn oder einem kaum weniger verrückten Glauben an die Vernunft. Nur eben alles ohne Sex.
Eine miese Bastardwelt!
Und was war mit den Neutoten, denen zu helfen ich mir versprochen hatte? Was war, wenn sie sich im Laufe der Ermittlungen als Monster herausstellten? Ich wusste darauf keine Antwort. Alle landen früher oder später hier, egal wie bösartig oder gut sie einmal gewesen waren. Verwirrt, ratlos und unfähig, irgendwem etwas anzutun, außer sich selbst. Mit Moral kam ich nicht weiter. Es war nicht an mir, jemanden zu verurteilen. Oder doch?
Nur bei einem war ich mir völlig sicher: Der Hund.
Ich würde mich um ihn kümmern, so gut ich es vermochte. Und vielleicht käme er irgendwann so gut zurecht, dass er niemals jene Angst oder Verwirrung spüren würde, die bei Tieren für gewöhnlich zur Selbstauflösung führt. Wenn ich es gut machte, würde er hier bleiben, länger vielleicht als jeder menschliche Geist. Er war so etwas wie ein dicker, alter Baum, in den ich mein klägliches Ich-war-hier ritzen würde.
*
Der Morgen brachte keinen neuen Regen, dafür aber starken Wind. Nicht, dass mir das viel ausmachen konnte, im Gegenteil. Es ist sogar die einzige Wetterlage, die mir halbwegs sympathisch ist.
Ich sah ein wenig den Menschen zu, die sich auf dem Weg zur Arbeit gegen die Luft stemmten, und erfreute mich an dem Heulen der Böen, das zwischen den Hochhäusern von Marzahn einen ganz eigenen Klang besitzt.
Koss hatte sich beruhigt und nach ein paar strengen Ermahnungen, sich nicht von der Stelle zu rühren, machte ich mich auf den Weg zu seiner Beerdigung. Allein, denn der Hund schien es vorzuziehen, heute nicht vor die Kellerwand zu gehen. Auch gut.
Der Friedhof war am anderen Ende der Stadt. Es dauerte eine Weile, bis ich Reemund und Wedelbeck zwischen all den Menschen ausfindig gemacht hatte, die hier zusammen gekommen waren.
Scheinbar war die gesamte Belegschaft der SIKOmedia anwesend. Man erkannte sie deutlich an den finsteren Blicken, die sie den Kollegen von Presse und Fernsehen zuwarfen, die ihrerseits nur darauf warteten, einige spektakuläre Aufnahmen zu machen. Außerdem gab es eine große Anzahl Schaulustiger und ein paar offenbar wirklich traurige ältere Frauen. Sie waren die einzigen, die weinten, wobei das nicht zwangsläufig etwas über den Toten aussagte.
Es ist ohnehin so, dass die meisten Tränen auf einer Beerdigung dem Weinenden selbst gelten, der Erinnerung an all die mehr oder weniger kleinen Tode, die zu einem normalen Leben einfach gehören. Das Dumme mit dem Heulen am Grab ist nur, dass man es in zumindest einer Hinsicht mit dem Pinkeln auf öffentlichen Toiletten vergleichen kann: Die meisten können nicht mehr, wenn neben ihnen einer steht, der das gleiche tut. Das Ergebnis ist, dass ein Großteil der Trauergäste wie die Ölgötzen um das Grab herum zu stehen pflegt und vergeblich darauf hofft, dass man ihnen die Verklemmtheit nicht ansieht.
Eines Tages beschrieb mir mein Ex-Therapeut ein Spiel, das er kurz nach seinem Tod mit einer Gruppe anderer Geister zu spielen begonnen hatte.
Sie nannten es Kondolenz-Bashing , und es geht so: Jeder Spieler sucht sich am Eingang des Friedhofes einen Lebenden aus. Einzige Bedingung: Verwandte ersten Grades sind tabu. Man erkennt sie für gewöhnlich an den zahlreichen Umarmungen, die ihnen ab ihrem Eintreffen zuteil werden. Derjenige, dessen Erwählter am Grab die beste Trauerpose hinbekommt und durchhält, wird Sieger. Die Regeln sind hart. Es gibt zum Beispiel Punktabzug für ängstliche Blicke auf die Mittrauernden, verstohlenes Ablesen der Uhrzeit oder auch nur für das Abwischen eines Staubkorns vom Jackett. Indes kann man Punkte gut machen, indem man die nächste Bewegung seines Erwählten richtig voraussagt. Der Zusammenbruch einer Spielfigur gilt als Knacken des Jackpots und beschert dem Spieler automatisch den Sieg. Die Erinnerung an diese für ihn äußerst lustigen Zeiten ließ meinen Therapeuten meckernd auflachen.
Als ich es wagte anzumerken, dass ich das alles überhaupt nicht komisch fand, meinte er lapidar, ich sei ein Spielverderber und ein Jammerlappen, und ich solle mich gefälligst dahin scheren, wo der Pfeffer wächst.
Jeder hat seine Art, den Frust über den eigenen Tod
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