Der Weg zur Hölle
interessant. Jeder Geist, den ich bis dato kennengelernt hatte, wusste über seine Nahnachtodphase absolut nichts mehr. So als habe er traumlos geschlafen. Koss jedoch schien nicht alles vergessen zu haben. Konnte das womöglich auf meine Arbeit zurückzuführen sein?
»Was wissen Sie noch?«, fragte ich neugierig.
»Einiges. Ich bin vor ein paar Tagen von einem Balkon gefallen. Bin ich daran gestorben?«
»Nein. Da waren Sie schon tot.«
»Interessant.« Er überlegte eine Weile und ich hütete mich, ihn zu unterbrechen. Irgendwann schüttelte er den Kopf.
»Es sind bloß einzelne Bilder, und ich kann sie nicht einordnen. Ich habe irgendwann schlimm geweint. Ich habe aus einem kaputten Kellerfenster gestarrt, und ich habe einen anderen Geist angefasst.« Er unterbrach sich. »Zwei. Sie waren der eine. Und da war noch ein anderer. Ein anderer, der jetzt in einem Keller liegt. Kann das sein?«
Ich war begeistert.
»Ja. Das stimmt alles. Nur weiter.«
»Es war eigenartig. Sehr verwirrend. Aber lustig.«
Ich nickte.
»Das ist normal. Wenn sich Geister berühren, dann vermischen sich ihre Gedanken. Man muss einen Schild dagegen aufbauen, aber das lernen Sie noch.«
Koss sah mich an.
»Was wollen Sie von mir?«
Was war das für eine merkwürdige Frage?
»Ich habe Sie fluchen hören, in den letzten Tagen, mehrmals. Sie nannten sich selbst einen Dummkopf, und dass es besser gewesen wäre, uns in Ruhe zu lassen, wie jeden anderen Geist auch.«
Hätte ich einen Körper gehabt, wäre ich rot geworden.
»Ja«, sagte ich etwas verdruckst und mied Koss' Blick. Wer wird schon gern bei Selbstgesprächen erwischt? »Das kann sein.«
»Es ist also nicht normal, dass erfahrene Tote …«, beim letzten Wort zögerte er. Es fiel ihm offenbar noch schwer, sich selbst dazu zu zählen. »Die Erfahrenen helfen den Neuen also normalerweise nicht?«
»Nein.«
»Also, was wollen Sie von mir?«
Jetzt war es an mir, eine Weile in die Sonne zu starren, deren untere Hälfte bereits hinter der Stadt verschwunden war.
»Ich will, dass Sie wissen, wer Sie vor Ihrem Tod waren.«
Koss schien einen Moment lang in sich hinein zu hören, bevor er mich ansah.
»Sie haben recht. Ich habe keine Ahnung. Ist das immer so?«
Er ging erstaunlich ruhig damit um.
»Ja. Das ist normal. Aber es würde der Punkt kommen, an dem Sie es bedauern, nichts mehr über sich zu wissen. Bei dem Einen passiert das früher, bei dem Anderen später.«
»Ach darum geht es? Nicht um mich , sondern um Sie ?«
Die Klugheit Anderer kann nerven.
»Zunächst mal will ich rausfinden, ob Ihnen das was bringt«, sagte ich in einem Ton, der Eile suggerieren sollte.
»Sie wollen wieder los?«
»Ich muss. Es hat einen Mord gegeben.«
Koss sah mich lauernd an.
»Wenn ich schon Ihr Versuchskaninchen bin, kann ich nicht mitkommen?«
Ich schüttelte den Kopf.
»Warum nicht?«
»Ich weiß nicht, was mich da erwartet. Und ich weiß nicht, wie Sie als Neugeist damit umgehen.«
»Für einen Toten machen Sie sich eine Menge Sorgen.«
Ich lachte, nicht zuletzt erleichtert darüber, dass mich Koss nicht gefragt hatte, wann er endlich Gott den Herrn in seinem Glanz erschauen dürfe.
»Das ganz bestimmt.«
*
Ich hab mal jemanden sagen hören, Berlin sei die Hauptstadt der abgerissenen Utopien. In keiner anderen Metropole der Welt gebe es mitten in der Stadt so viele seltsame und völlig unmotivierte Freiflächen. Entweder Plätze, auf denen mal Häuser gestanden hatten, die eine neue Zeit einläuten sollten und die von der übernächsten Zeit wieder weggespült worden waren, oder Grenzflächen zwischen verschiedenen, unvereinbaren Ideen, auf die einfach nichts als Leere passen will.
An so einem Ort lag die Leiche von Hans-Jochen Meyer.
Mitten auf einer großen Wiese, die von schmalen Wegen durchzogen und vereinzelten Bäumen durchsetzt war. Auf der einen Seite wurde sie von einer Sozialwohnsiedlung aus Vorkriegszeiten begrenzt, auf der anderen durch ostdeutsche Plattenbauarchitektur. Von einem Rand zum anderen brauchte man zu Fuß ungefähr fünf Minuten.
Die Vertiefung, in der Meyer lag, wirkte wie von ihm selbst als Dauersitzplatz eingerichtet: Ein rostiger Klappstuhl mit vergilbtem Blumenmuster, Backsteine zu einem provisorischen Tisch zusammengestellt, darauf und daneben ein paar leere Flaschen. In der Nähe stand ein Baum, der, seinem kümmerlichen Aussehen nach zu urteilen, schon einiges an menschlichen Körpersäften hatte aushalten müssen.
Der Tote lag
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