Der Weg zurück
Zwei werden überfahren und weggeschleppt. Sofort springen andere auf. Die Trittbretter sind voll. Das Gedränge geht im Fahren weiter.
Einer hält sich an der Tür fest. Sie geht auf, und er hängt draußen frei am Fenster. Willy klettert hinterher, packt ihn am Kragen und zieht ihn herein.
Nachts hat unser Waggon die ersten Verluste. Der Zug ist durch einen niedrigen Tunnel gefahren. Einige Leute auf dem Dache sind zerquetscht und heruntergefegt worden. Die andern haben es wohl bemerkt, hatten aber von oben aus keine Möglichkeit, den Zug zum Halten zu bringen. Auch der Mann im Lokusfenster ist eingeschlafen und herausgefallen.
Die übrigen Wagen haben ebenfalls Verluste. Die Dächer werden deshalb organisiert mit Halteklötzen, Stricken und eingerammten Seitengewehren. Außerdem wird ein Postendienst eingerichtet, um bei Gefahr zu warnen.
Wir schlafen und schlafen, im Stehen, im Liegen, im Sitzen, im Hocken, krumm auf Tornistern und Paketen, wir schlafen. Der Zug rattert. Häuser, Bäume, Gärten, winkende Menschen – Umzüge, rote Fahnen, Bahnhofwachen, Geschrei, Extrablätter, Revolution – wir schlafen erst mal, das andere mag später kommen. Jetzt erst spürt man, wie müde man in all der Zeit geworden ist.
Es wird Abend. Eine Funzel brennt. Der Zug fährt langsam. Er hat oft Aufenthalt wegen Maschinenschaden.
Die Tornister schaukeln. Die Pfeifen qualmen. Der Hund schläft friedlich auf meinen Knien. Adolf Bethke rückt zu mir herüber und streichelt sein Fell. »Ja, Ernst, nun gehen wir auch bald auseinander«, meint er nach einer Weile.
Ich nicke. Es ist sonderbar, aber ich kann mir das Leben ohne Adolf eigentlich gar nicht weiter vorstellen – ohne seine wachsamen Augen und seine ruhige Stimme. Er hat mich und Albert erzogen, als wir ahnungslos als Rekruten ins Feld kamen, und ich glaube nicht, dass ich ohne ihn überhaupt noch da sein würde.
»Wir müssen uns wiedertreffen«, sage ich. »Oft, Adolf.« Ein Stiefelabsatz patscht mir ins Gesicht. über uns im Gepäcknetz sitzt Tjaden und zählt eifrig sein Geld – er will vom Bahnhof gleich zu einem Puff gehen. Um sich in Stimmung zu bringen, tauscht er schon jetzt seine Erfahrungen mit ein paar Landsern aus. Keiner empfindet das als Schweinerei – es ist nichts vom Krieg darin, schon deshalb hört man zu.
Ein Pionier, dem zwei Finger fehlen, erzählt stolz, seine Frau hätte ein Siebenmonatskind geboren, das trotzdem sechs Pfund gewogen habe. Ledderhose lacht ihn aus – so was gäbe es nun doch nicht. Der Pionier versteht ihn nicht. Er zählt die Monate zwischen seinem Urlaub und der Geburt an den Fingern ab. »Sieben«, sagt er, »es muss stimmen.«
Ledderhose gluckst und verzieht spöttisch sein Zitronengesicht: »Wird dir dann eben ein anderer besorgt haben.«
Der Pionier starrt ihn an. »Was sagst du da?«, stottert er. »Na, ist doch klar«, näselt Arthur und rekelt sich.
Dem Pionier bricht der Schweiß aus. Er zählt immer wieder. Seine Lippen zittern. Ein dicker Trainfahrer mit einem Vollbart biegt sich am Fenster vor Lachen. »Mensch, du Ochse, du blödsinniger Ochse –«
Bethke richtet sich auf. »Halt die Schnauze, Dicker!«
»Wieso?«, fragt der Vollbart.
»Weil du die Schnauze halten sollst«, sagt Bethke, »und du auch, Arthur.«
Der Pionier ist blass geworden. »Was soll man denn da nur machen?«, fragt er hilflos und hält sich am Fensterrahmen fest.
»Man soll eben erst heiraten«, sagt Jupp nachdenklich, »wenn man die Kinder schon am Verdienen hat. Dann kann so was nicht passieren.«
Draußen gleitet der Abend vorbei. Die Wälder liegen wie dunkle Kühe am Horizont, die Felder schimmern blass im fahlen Schein, den der Zug aus den Fenstern wirft. Es sind plötzlich nur noch zwei Stunden bis nach Hause. Bethke steht auf und macht seinen Tornister fertig. Er wohnt in einem Dorfe, einige Stationen vor der Stadt, und muss früher aussteigen. –
Der Zug hält. Adolf gibt uns die Hand. Er stolpert auf den kleinen Bahnsteig und sieht sich um mit einem kreisenden Blick, der in einer Sekunde die ganze Landschaft einsaugt wie ein dürres Feld den Regen. Dann wendet er sich uns wieder zu. Aber er hört nichts mehr. Ludwig Breyer steht am Fenster, obschon er Schmerzen hat. »Nun hau schon ab, Adolf«, sagt er, »deine Frau wartet doch. –«
Bethke sieht zu uns empor und schüttelt den Kopf. »So eilig ist es nicht, Ludwig.« Man sieht ihm an, dass es ihn mit Gewalt rückwärts zieht, aber Adolf ist Adolf – er bleibt bis
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