Der Weg zurück
Jahre niemals gewesen, in denen es doch nur eins gab: Tod oder Leben und nichts sonst.
Schweigend und bockig stopfe ich in mich hinein, was ich fassen kann, wenigstens gründlich satt werden will ich. Sobald es geht, drücke ich mich dann hinaus.
In der Garderobe steht der Diener im Frack. Ich greife nach meinen Sachen und fauche: »Dich hätten wir auch im Felde haben müssen, du lackierter Affe! Dich und die ganze Bande hier!« Dann knalle ich die Tür zu.
Wolf hat vor dem Hause auf mich gewartet. Er springt an mir hoch. »Komm Wolf«, sage ich, und plötzlich wird mir bewusst, dass es nicht das Pech mit dem Kotelett war, das mich so erbittert gemacht hat, sondern dass es dieser abgestandene, selbstgefällige Geist von früher ist, der sich hier immer noch bläht und wichtigtut. »Komm, Wolf«, wiederhole ich, »das sind keine Leute für uns! Mit jedem Tommy, mit jedem französischen Grabenschwein würden wir uns besser verstehen. Komm, wir gehen zu unseren Kameraden! Da ist es besser, wenn sie auch mit den Händen fressen und rülpsen! Komm!«
Wir laufen los, der Hund und ich, wir rennen, was wir können, schneller und schneller, keuchend, bellend, wir rennen wie die Verrückten mit funkelnden Augen – mag alles zum Satan gehen, wir leben, was Wolf, wir leben!
V
Ludwig Breyer, Albert Troßke und ich sind auf dem Wege zur Schule. Der Unterricht soll wieder beginnen. Wir waren Schüler des Lehrerseminars, und für uns hat es kein Notexamen gegeben. Die Kriegsteilnehmer des Gymnasiums haben es besser gehabt. Viele von ihnen konnten eine Notprüfung machen, entweder bevor sie Soldaten wurden oder während ihres Urlaubs. Der Rest, der das nicht getan hat, muss allerdings auch wieder in die Klassen zurück. Karl Bröger gehört dazu.
Wir kommen am Dom vorbei. Die grünen Kupferplatten der Türme sind abgedeckt und durch graue Dachpappe ersetzt worden. Sie sehen schimmelig und zerfressen aus, und die Kirche wirkt dadurch fast wie eine Fabrik. Die Kupferplatten sind zu Granaten eingeschmolzen worden.
»Das hätte sich der liebe Gott auch nicht träumen lassen«, sagt Albert.
An der Westseite des Domes, in einer winkligen Gasse, liegt das zweistöckige Seminar. Schräg gegenüber das Gymnasium. Dahinter der Fluss und der Wall mit den Linden. Ehe wir Soldaten wurden, umfassten diese Gebäude unsere Welt. Dann wurden es die Schützengräben. Jetzt sind wir wieder hier. Aber dies ist nicht mehr unsere Welt. Die Gräben waren stärker.
Vor dem Gymnasium treffen wir unseren Spielkameraden Georg Rahe. Er war Leutnant und Kompanieführer, aber im Urlaub hat er gesoffen und herumgesessen und nicht an sein Abitur gedacht. Deshalb muss er jetzt wieder in die Obersekunda, in der er schon zweimal sitzen geblieben ist.
»Ist das wahr, Georg?«, frage ich, »dass du draußen so erstklassig geworden bist in Latein?«
Er lacht und storcht mit seinen langen Beinen zum Gymnasium hinüber.
»Pass auf, dass du in Betragen keine Vier kriegst«, ruft er mir nach.
Im letzten halben Jahr war er Flieger. Er hat vier Engländer abgeschossen, aber ich glaube nicht, dass er den pythagoreischen Lehrsatz noch beweisen kann.
Wir gehen weiter zum Seminar. Die Gasse wimmelt von Uniformen. Gesichter tauchen auf, die man fast vergessen, Namen, die man Jahre nicht mehr gehört hat. Hans Walldorf humpelt heran, den wir November 17 mit zerschmettertem Knie zurückschleppten. Der Oberschenkel ist ihm abgenommen worden; er trägt jetzt ein schweres Kunstbein mit Scharnieren und stampft beim Gehen mächtig auf. Kurt Leipold erscheint und stellt sich lachend selbst vor: Götz von Berlichingen mit der eisernen Faust. Er hat einen künstlichen rechten Arm. Dann kommt jemand aus der Torecke und sagt gurgelnd: »Mich kennt ihr wohl nicht wieder, was?«
Ich sehe das Gesicht an, soweit es noch eins ist. über die Stirn läuft eine breite, rote Narbe. Sie reicht bis ins linke Auge. Das Fleisch ist dort übergewachsen, sodass das Auge klein und tief liegt. Aber es ist noch da. Rechts ist das Auge starr, aus Glas. Die Nase ist fort, ein schwarzer Lappen bedeckt die Stelle. Die Narbe, die darunter hervorläuft, spaltet den Mund zweimal. Er ist wulstig und schief zusammengewachsen, daher die undeutliche Sprache. Die Zähne sind künstlich. Eine Klammer ist daran sichtbar. Unschlüssig schaue ich hin. Die gurgelnde Stimme sagt: »Paul Rademacher.«
Jetzt erkenne ich ihn. Das ist ja sein grauer Anzug, mit den Streifen. »Tag, Paul, was machst du?«
»Siehst
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