Der weibliche Weg Gottes
Hier zu unseren Füßen der Tod vor vielen hundert Jahren. Eine Inschrift ist nicht mehr zu erkennen. Ich strecke meine Hände aus, spüre über einer der beiden Platten Wärme in meinen Handflächen. Diese ist es. Es gibt eine Verbindung zu dieser Steinplatte oder sehr wahrscheinlich zu dem, was einst unter diese Platte gelegt worden ist.
Weiter geschieht nichts. Das Herz beruhigt sich langsam, es scheint vorbei zu sein. Eine Erfahrung meiner überreizten, momentan sehr sensiblen Psyche, mehr nicht. Also gehe ich nach einiger Zeit.
Kaum stehe ich außen vor der großen Eichentür, überfällt mich wieder Nervosität, ich muss noch einmal rein, diesmal allein. Etwas zieht mich, genau wie vorhin, gibt keine Ruhe. In meinen Ohren rauscht und dröhnt es. So muss es Menschen zumute sein, die einen Hörsturz bekommen, denke ich. Nichts dringt mehr von außen nach innen. Wieder stehe ich vor der Grabplatte. Und in all den tosenden Geräuschen, die meine Innenwelt abschotten, höre ich im Kopf eine Stimme: „Was auch immer du getan hast, ich verzeihe dir. Du bist frei. Ich lasse dich los. Du kannst gehen.“ Mir ist, als würde sich eine riesige Faust auf meinen Magen drücken, und ich fühle den Schmerz, den Schuldgefühle auslösen.
Wer hat die Worte zu mir gesagt? Was habe ich getan, was war meine Schuld? Ich strecke meine Hände aus und spüre die Verbindung zu dem, was unter der Grabplatte ist, möchte die Verbindung halten, mehr erfahren. Und wieder die Stimme: „Was auch immer du getan hast, ich verzeihe dir. Du bist frei. Ich lasse dich los. Du kannst gehen.“ Jetzt bin ich gar nicht mehr so sicher: Habe ich diese Sätze gehört oder weitergegeben? Wer hat wem verziehen, wer hat was gemacht? Wer ist dieses Ich und wer das Du? Fassungslos starre ich auf das Grab zu meinen Füßen. Wo ist die Verbindung zwischen dem, was in meinem Inneren gesprochen worden ist? Von Süden bin ich gekommen, hier endete mein Weg. Unrecht ist geschehen von beiden Seiten. Und über die Jahrhunderte hinweg fehlt nur noch das eine: Ich verzeihe dir und lasse dich damit los.
Weiter geschieht nichts, der Kontakt ist abgerissen. Das Herzklopfen und Rauschen in den Ohren nimmt abrupt ab, ebenso der Druck im Magen. Erst jetzt merke ich, dass mir Tränen geflossen sind. Es scheint vorbei zu sein.
Was gesagt werden musste, ist gesagt. Wir können voneinander lassen. Wer auch immer wir waren, in welchem Leben einmal verbunden — es ist vorbei. Etwas war noch offen: das Verzeihen. Wir haben uns die Freiheit gegeben. Eine Seele hat hier schon lange auf mich gewartet, oder ich habe sie gesucht, wer weiß das schon. Etwas war noch offen, das ist jetzt geschlossen. Erst durch das Verzeihen entsteht Freiheit.
Immer wieder verzeihen und loslassen. Zuerst ist der Schmerz, dann der Zorn, später die Trauer. Beim Loslassen der Vergangenheit kommen so viele Bilder hoch, die wehtun. Die kann man nicht ausknipsen, wie eine Lampe, nicht vergessen, wie einen Namen. Die Bilder wollen Beachtung. Verstehen, was geschehen ist, ist auch verzeihen. Anderen zu verzeihen, geht nicht, ohne die eigenen Anteile zu sehen. Anderen zu verzeihen, heißt, zunächst einmal sich selbst zu verzeihen.
Alles beginnt beim Ich, nicht beim Du, und ist doch miteinander verzahnt. Ohne Verzeihen keine innere Freiheit und damit die Chance, erkannte Muster aufzugeben. Die Trennung ist nicht das Ende, selbst der Tod nicht. Schmerz und Hass haben scharfe Zähne, beißen sich fest, halten fest über ein Leben hinaus. Verzeihen ist Liebe, Liebe ist Verzeihen. Das braucht seine Zeit.
Ich umrunde noch einmal den Innenhof und komme zurück. Nichts mehr, nur noch die Erinnerung, dass dies eine besondere Stelle im Claustro war.
Was bleibt, ist eine große Verwirrung. Was mir der Camino vor meine Füße wirft, hilft mir und führt mich gleichzeitig an meine psychischen Grenzen. In der Meseta die Begegnung mit Maria, jetzt die Begegnung, bei der es um das Verzeihen geht. Gibt das einen Sinn, eine Verbindung?
Der Name der Kathedrale? Santa María de la Regia.
SIE lässt mich nicht mehr los.
Danke...
SIE bleibt
Zwei Tage später sitzen Angelika, Peter, Dick, Maritta und ich am Abend schon seit Stunden auf der Plaza in Astorga bei Pizza und Wein. Da sagt Peter, der immer alle Zahlen parat hat: „Bis Santiago sind es keine 300 Kilometer mehr!“ Peng. Aus mit dem zeitlosen Dahingleiten. Auch der Camino ist endlich, es war uns nur für eine Weile nicht bewusst. Ich schaue in betroffene
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