Der weibliche Weg Gottes
Sofort lausche ich in die Stille. Hat mich etwas geweckt? Höre ich ein Rascheln, Schritte, irgendetwas? Alles ist ruhig. Meine Augen gewöhnen sich an die Dunkelheit. Vorsichtig hebe ich den Kopf und schaue um mich. Keine Bewegung. Selbst der Wind scheint zu schlafen. Nur der Bach ist zu hören, sein Plätschern klingt wie ein zartes Glockenspiel aus Glas.
Es ist unbeschreiblich schön. Über mir der Himmel ohne eine Wolke, dafür übersät mit schier unendlich vielen glitzernden Sternen, wie ein funkelndes Zelt. Manche nennen den Jakobsweg auch den Himmelspfad oder den Weg unter der Milchstraße. Heute Nacht sind so viele Sterne am Himmel, wie ich es noch nie gesehen habe. Sie stehen so nah zusammen wie Fäden in einem dichten Gewebe. Die Rundkuppel des Sternenzeltes scheint die kleine Senke, in der ich liege, ganz zu umhüllen.
Mein Körper ist schwer und müde, aber mein Kopf wach und klar. So liege ich und schaue, versuche Sternenbilder zu erkennen, gebe aber schnell auf, weil ich keine Lust habe nachzudenken. Nur liegen und genießen, das will ich.
Es ist das erste Mal in meinem Leben, dass ich allein draußen ohne Zelt übernachte. Bisher war immer jemand an meiner Seite. Das hat mir Schutz gegeben. Trotzdem war ich oft unruhig, hatte Angst, wenn ich wach wurde in der Nacht, tastete nach einem Körper neben mir, der mir Sicherheit gab, oder war froh über das verschlossene Zelt.
Jetzt ist es anders. Ich fühle mich ganz ruhig, beschützt und geborgen. Hier wird mir nichts passieren, da bin ich mir ganz sicher. Woher kommt dieses Geborgensein, gebe ich es mir selbst, ist es ein Teil der Stärke und des Vertrauens zu mir, das ich noch vor wenigen Stunden so intensiv erlebt habe?
Ich bin nicht allein, das fühle ich. Etwas ist bei mir, neben mir, über mir, in mir, passt auf mich auf. Ich bin geborgen. Ich kann meinem Gefühl vertrauen. Es treibt mir die Tränen in die Augen, und es sind Tränen der Freude und Dankbarkeit. Irgendetwas ist hier, ganz real und doch nicht als Materie und beschützt mich. Ich kann vertrauen, mir und dem, was bei mir ist, und das ist etwas Göttliches, etwas Unbeschreibliches, etwas Unsagbares und doch Präsentes. Ich liege mit offenen Augen, schaue in die Endlichkeit des Universums und schlafe irgendwann wieder ein.
Am Morgen weckt mich die Helligkeit und ich rolle mich auf den Bauch, um die Sonne aufgehen zu sehen. Das Licht ist zunächst noch grau und diffus, die ersten Strahlen kalt-weiß. Ich bin ganz benommen, seltsam entrückt, und gleichzeitig sehe und höre ich alles intensiver als gestern, das Plätschern des Baches, ein Vogel singt, ein Blatt fällt neben mich.
Die Erinnerung an die Nacht setzt nur langsam ein. Gestern war ich körperlich völlig am Ende. Da bin ich in der Nacht eigene Wege gegangen, sagt mein Kopf. Das ist es nicht allein, sagt mein Gefühl, irgendetwas hat mich in der Nacht berührt, da bin ich mir ganz sicher.
Ich packe meine Sachen zusammen. Dabei bin ich ganz behutsam, vermeide schnelle Bewegungen. Es ist, als hätte ich heute Morgen mehr Gefühl in meinen Händen, als würde ich jedes Teil, das ich anfasse und einpacke, zum ersten Mal wirklich spüren. Bevor ich gehe, nehme ich meine Karte und schaue mir die Route für heute an. Wo bin ich hier? Einer der vielen Bäche fließt durch das Tal der Heiligen Maria.
Hier also. Schon wieder sie. Sie lässt mich nicht los. Sie ist bei mir und war es auch in der Nacht. Sie hat mich beschützt. Es scheint, als sei sie nicht nur eine Frau, die vor zweitausend Jahren gestorben ist, eine Frau aus der Bibel, eine Symbolgestalt für bedingungslose Liebe, der Stoff für Statuen, Bilder und Krippenfiguren. Sie ist real, und gleichzeitig reichen die Bilder nicht aus, die ich in meinem Kopf habe. In der Nacht hatte ich das Gefühl, dass etwas Göttliches bei mir war. SIE war da.
Diese Gedanken machen mich so konfus, dass ich nicht weiterdenken kann. Alles löst sich auf, nichts hat mehr Halt und Bestand, bei dieser Verwirrung tut Bewegung gut. Ich setze meinen Rucksack auf und vergewissere mich, dass ich nichts vergessen habe. Nur das flachgelegene Gras erinnert an meine Nacht hier. Ein letzter Blick auf mein Paradies, dann führt mich mein Weg aus der Senke heraus. Meine Beine sind bleischwer, nur mühsam komme ich voran.
Nach einer Weile hole ich mir den Satz hervor, der mir gestern so viel Kraft auf den letzten Kilometern gegeben hat: Ich bin stark genug, meinen Weg allein zu gehen.
Aber heute morgen
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