Der weibliche Weg Gottes
passt er nicht mehr, er gibt keinen Rhythmus für meine müden Beine. Es fehlt etwas ganz Entscheidendes: Ich bin gar nicht allein. Ich bin stark genug, meinen Weg allein zu gehen, aber ich bin nicht allein.
Das ist es. Das war gestern Nacht. Ich war nicht allein dort, ich war es nie. Ich habe es nur nicht wahrhaben wollen. Ich bin auch jetzt nicht allein. Jemand füllt das NICHTS — und es ist IHR Bild.
SIE ist bei mir. SIE war gestern schon da, vorgestern, zu Beginn meines Weges, in Lourdes, zu Hause, vermutlich war SIE schon immer bei mir, ich habe es nur nicht gemerkt. SIE hat mich auf diese Reise geschickt, hat auf mich gewartet, obwohl ich mir viel Zeit gelassen habe, SIE zu erkennen. Jetzt ist SIE da, und das ist schön, aber leichter wird es dadurch nicht. Mir ist, als würde mir mit einem Messer mein Brustkorb geöffnet. Was herausquillt sind bunte Versatzstücke meiner Werte, meines Glaubens, meines Herzens und meiner Seele. Nichts passt mehr zusammen, es ist so viel, was sich im Inneren gesammelt hat, dass es nur auf den befreienden Schnitt gewartet. Außerhalb meines Körpers scheint sich alles wieder zusammenzufügen zu einem merkwürdigen, ganz neuen Gebilde: bunter, leuchtender, facettenreicher, vielfältiger. Zu Beginn meines Weges lag meine äußere Welt als Scherbenhaufen vor mir — und es ging mir schlecht damit. Gerade zerbricht in meinem Inneren alles — und ich fühle mich zwar verunsichert, aber gut damit.
Es war zu eng in mir geworden, für all das, was sich in diesen Tagen auf dem Camino verändert hatte, ist mein ersten Gedanke. Es ist viel mehr geworden, kommt dann. Und noch etwas später: Jemand ist bei mir, in meinem Inneren.
Ich möchte diesen Gedanken abschütteln, weil ich ihn verrückt finde, alienmäßig, aber er kommt wieder, weil er stimmig ist, und meine Beine bewegen sich im Rhythmus: Ich bin stark genug, meinen Weg zu gehen, und SIE ist bei mir. Das Atmen fällt mir jetzt ganz leicht, und meine Kraft kehrt langsam zurück, mit jedem Schritt fühle ich mich besser.
In Reliegos führt mein Weg am Friedhof vorbei. Eine Frau kommt mir mit einem Strauß Pfingstrosen entgegen. Wir sehen uns an, lächeln, grüßen uns wortlos, und für einen Moment sehe ich so etwas wie Verstehen in ihren Augen, als könnte sie mir ansehen, dass heute nichts mehr ist, wie es gestern war.
Der erste Pilger, der mich überholt, fragt, ob es mir gut geht. Das hat mich noch keiner hier zur Begrüßung gefragt. Es geht mir gut, und ich fühle mich durcheinander — beides. Aber das schließt einander ja nicht aus.
Trotzdem bleibt das Gefühl, entrückt und verwirrt zu sein. Ein Teil sagt: Es ist, wie du es fühlst, bleib' mit deinem Gefühl in Kontakt. Der andere Teil sagt: Du spinnst. Die körperliche Anstrengung lässt dich Dinge sehen, an die du nicht glaubst.
Stunden später biege ich ab zu einem Fluss, plantsche im eiskalten Wasser, schreibe in mein Tagebuch: Ich glaube, jetzt löse ich mich langsam von Ziel und Zeit. Kein Wort über Maria, kein Wort über SIE.
León ist nicht mehr weit. Aber ich kann nicht weiter. Jedes laute Geräusch lässt mich zusammenzucken. Es ist, als wäre meine äußere Schale zerbrochen, als würden meine Sensoren außerhalb meines Körpers beginnen.
Im Claustro
Mein Eintreffen in León ähnelt meinem Inneren. Ich verlaufe mich in den schmalen Gassen der Innenstadt und habe die Orientierung verloren, als ich auf Josef treffe, für den es eine Pilgeraufgabe ist, mich zum vereinbarten Treffpunkt zu geleiten. Dass Josef katholischer Geistlicher ist, werde ich erst viele Tage später erfahren. Im Nachhinein überlege ich, ob die katholische Kirche mir in meiner Verwirrung helfen kann, ob Josef ein Zeichen ist, wo, auch im übertragenen Sinn, Orientierung zu finden ist. Möglich wäre es schon, aber es ist nicht mein Weg. Da bin ich mir ganz sicher.
Angelika und ich waren zwölf Tage getrennt. Der Groll ist überwunden. Ich habe die Zeit gut genutzt, um die unterschiedlichen Anteile zu durchleuchten und Mechanismen der Eskalation zu erkennen. Es gibt einen Teil, den kann ich verändern. Damit geht es mir gut. Jetzt kann ich ihr wieder entspannt begegnen und freue mich, sie zu sehen.
Aber selbst mit einer so guten Freundin kann ich über die Erlebnisse in der Meseta nicht in allen Einzelheiten reden. Die Beziehung hat einen Riss bekommen, der letzte Konflikt war zu heftig, das macht mich vorsichtiger. Ich fühle mich noch immer dünnhäutig und verunsichert, muss
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