Der Weihnachtsfluch - Roman
schrecklicher Sturm kommen würde«, sagte Susannah leise, mit fahlem Gesicht. »Und niemand hat ahnen können, dass Daniel kommen würde.«
»Natürlich nicht. Aber du musstest unbedingt herausfinden, wer Connor umgebracht hat, um in deinem Innersten die Gewissheit zu haben, dass Hugo niemanden, den er mochte, aus Loyalität oder Mitleid in Schutz genommen hat.«
Susannah war sehr bleich. Ihr Gesicht schien ganz blutleer zu sein. Emily spürte ein stechendes Schuldgefühl, aber sie konnte jetzt nicht mehr zurück und eine offene Wunde hinterlassen, die es noch zu heilen galt und die schlimmer würde, wenn man sie nicht offengelegt hätte.
»Ich begleite Daniel in die Kirche«, wiederholte sie. »Ich passe auf und erzähle dir, was passiert ist. Mach dir wegen des Mittagessens keine Gedanken. Es ist noch kalter Braten übrig, und das Gemüse haben wir schnell zubereitet.«
Sie ging neben Daniel, der einen von Hugos besseren Anzügen trug, die Straße entlang. Der Anzug war zu groß für ihn, aber er nahm das kommentarlos hin. Er strich dankbar über den Stoff und lächelte.
Sie sagten kaum etwas. Daniel war noch recht schwach, und es kostete ihn einige Anstrengung und auch Selbstdisziplin, sich mit den Prellungen leichten Fußes zu bewegen und einigermaßen zügig gegen den Wind voranzukommen.
Emily dachte an ihre Familie zu Hause und fragte sich belustigt, was Jack wohl denken würde, wenn er sie sehen könnte, wie sie forsch die unebene Straße in einem Dorf entlangschritt, das sie nicht einmal kannte, und dann noch in Begleitung eines jungen Mannes, der vom Meer an Land gespült worden war. Um dem Ganzen noch die Krone aufzusetzen, begleitete sie ihn ausgerechnet in eine katholische Kirche. Das hatte Jack bestimmt nicht beabsichtigt, als er sie genötigt hatte, die Kinder an Weihnachten alleine zu lassen!
Dann, als der Wind an ihr zerrte, ihre Röcke aufbauschte und sie fast das Gleichgewicht verlieren ließ, dachte sie an Susannah und ihre Ehe mit Hugo Ross und fragte sich, ob ihr Vater Hugo jemals kennengelernt hatte oder ob er Susannah ausschloss, ohne zu wissen, was sie anstelle einer konventionellen Ehe, mit der er einverstanden gewesen wäre, die Susannah aber gehasst hätte, gewählt hatte. In ihrer Jugend war sie gehorsam gewesen. Der Tod des Vaters hatte sie befreit. Sie hatte Hugo aus Liebe geheiratet. Ihn verloren zu haben, hatte ihr das Herz gebrochen. Jetzt schritt sie alleine dem
Horizont entgegen, hinter dem sie sich mit Hugo wiedervereinen würde.
Sie kamen zu der niedrigen Kirche aus Stein und gingen hinein. Sie war nur halbvoll, so als wäre sie einst für eine größere Gemeinde gebaut worden. Sie bemerkte Father Tyndales erschrockenen Blick, der wohl mehrere Personen veranlasste, sich umzudrehen und sie anzustarren, als sie auf einer der hinteren Bänke Platz nahmen. Sie erkannte die Frauen aus dem Dorfladen, die mit Männern und Kindern, wohl ihren Familien, gekommen waren. Sie sah auch Fergal und Maggie O’Bannion und Mrs. Flaherty mit Brendan, der mit gesenktem Kopf neben ihr saß. Sie erkannte ihn nur an seinem dichten, gelockten Haar. Der zottige graue Kopf gehörte bestimmt Padraic Yorke.
Daniel schwieg und kniete sich langsam nieder und betete still. Sie fragte sich, ob sich irgendeine Erinnerung an die verschollenen Kameraden auf See wiedereingestellt hatte, und sie litt mit ihm für seine Verwirrtheit und für die zehrende Einsamkeit, die er empfinden musste.
Der Gottesdienst erschien ihr zunächst fremd, und sie hinkte immer etwas im Ablauf hinterher. Sie musste sich jedoch auch eingestehen, dass er etwas Schönes hatte, etwas, das ihr merkwürdig bekannt vorkam, als ob sie es schon einmal erlebt hatte. Sie beobachtete Father Tyndale, wie er feierlich, fast mystisch das Brot und den Wein segnete, und plötzlich sah sie ihn in einem anderen Licht, sah mehr in ihm als nur einen anständigen Menschen, der sein Bestes für die Nachbarn gab.
Für diesen kurzen Augenblick war er der Hirte seiner Schäfchen. Mit schrecklicher Klarheit sah sie den Schmerz in seinem Gesicht.
Aber sie war ja hier, um für Susannah Beobachtungen anzustellen. Während des Gottesdienstes konnte sie alles nur von hinten sehen. Fergal und Maggie O’Bannion saßen dicht beieinander. Er lehnte sich ständig näher an sie, so dass sein Arm den ihren berührte, sie aber rückte, wann immer das möglich war, von ihm ab, als ob sie sich beengt fühlte. Waren sie so voneinander entfernt, wie es jetzt den
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