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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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Prozession in eine massive Regatta verwandelte, die auf die Mauer zusteuerte. Der Wind heulte im Fortissimo und fand bald einen Rivalen in einem Zolmec-Lied, unheimlich wie all die unheimliche Musik der Galaxis, unheimlich wie das Zwitschern des Nerdengorgathons, aber tiefer, majestätischer, unheimlicher wie die Threnodien der einsamen Morgs von Kritonia, dieser traurigen, edlen Meeresungeheuer, aber conbrio.
    SAAHHRREEEMMMM sangen die Pilger in eingeübtem Unisono, ließen den Planeten erzittern. Da waren auch Worte, zunächst schwer zu begreifen, auf göttliche Ohren eingestimmt. Francis bewegte die Lippen und tat so, als würde er mitsingen.
    Mit diesem Lied will Tolcas Herz ich preisen
    Und Iztacs Augen,
    Chimecs Gedankenkraft.
    Es ist so falsch, das Fleisch von andern aufzureißen,
    Und gute Seelen verachten
    Der Gehirnfresser Herrschaft.
    Und so ging es immer weiter.
    Als die Hymne beendet war, stiegen die Kirchgänger ab, banden ihre Lipocas an Büschen und Wurzeln fest. Francis ließ sich von der Menge treiben, bis er nur noch fünf Meter von den dunklen Grundfesten der Mauer entfernt war, wo im Laternenlicht eine weibliche Gestalt die Stufen hinaufstieg. Dann stand sie auf der Mauer, wandte sich der Gemeinde zu, und die Konstellationen wölbten sich über ihrem Kopf wie eine Kapuze.
    »Friede!« rief Vaxcala mit lauter Stimme. Goldene Ketten klirrten um ihren Schwanenhals.
    »Friede!« antwortete die Gemeinde. Dicht vor Francis beugte sich eine hagere Frau zu ihrem feisten Sohn hinab. »Heute abend haben wir Glück. Vaxcala ist heute zu unserer Kirchengemeinde gekommen, um den Gottesdienst mit uns zu zelebrieren.«
    »Wer?«
    »Die Hohepriesterin persönlich«, antwortete die Frau entzückt. Dem Jungen war das egal. Francis ließ den Blick über den Mauerrand wandern und sah, daß alle hundert Meter ein Priester oder eine Priesterin stand, so wie Vaxcala, hoch aufgerichtet, gebieterisch, und jede Gestalt war der Brennpunkt von achthundert frommen Augen.
    »Geht mit mir auf die Reise durch Zeit und Raum«, begann Vaxcala. »Begleitet mich in den Schoß unserer Ururgroßmutter, der Eden Drei. Kommt mit mir ins Treibhaus auf der Ebene Neun, steigt auf einen Baum und seht zu, wie die Prophetisten mit den Gehirnfressern kämpfen in einer wilden Schlacht. Neben euch sitzt ein kleines Mädchen.«
    »Janet Vij!« brüllte die Gemeinde.
    Francis fragte sich, was ein Prophetist wohl sein konnte.
    »Plötzlich schweigen die Geschütze. Und Janet Vij, zehn Jahre alt, erhebt die kleine Hand und spricht.«
    Vaxcala verwandelte sich in Janet Vij, die ihre kleine Hand hob und sprach. »Gehirnfresser und Prophetisten!« zirpte sie. »Hört auf mich! Begrabt euren Haß! Vermacht diese Schlacht der Geschichte als jene einzigartige, wo jeder Soldat inmitten der Barbarei plötzlich innehält und >Nein!< sagt!«
    Vaxcala fuhr in ihrem gewohnten Tonfall fort: »Jünger, welche Antwort sollten die Soldaten geben?«
    »Ich weigere mich weiterzukämpfen!« sang die Gemeinde.
    »Aber die Soldaten weigerten sich nicht zu kämpfen!«
    »Weil sie Zolmec nicht haben!«
    »Die Gehirnfresser zielen auf Janet Vijs erhobene Hand.«
    »Die Gehirnfresser schießen sie weg!«
    »Wer hat Zolmec?« fragte Vaxcala.
    »Wir!«
    »Wer seid ihr?«
    »Quetzalianer!«
    »Wo ist Quetzalia?«
    »Sag es uns!«
    »Prügelstrafen sind nur Phantasie!« schrie Vaxcala.
    »Meuchelmord ist eine Legende!« feuerte die Gemeinde zurück.
    »Kidnapping ein Mythos!«
    »Folterqual ein entschwundener Alptraum!«
    »Diebe sind unbekannt!«
    »Krieger namenlos!«
    »Frauenschänder unvorstellbar!«
    »Wir haben keine Gefängnisse!«
    »Keine gerichtlichen Strafen!«
    »Keine Waffen!«
    »Wir kennen keine Rache!« Nun tanzte Vaxcala, warf sich hin und her, in geübter Exstase, und kreischte verzückt: »Gepriesen sei Iztac! Gepriesen sei Tolca!«
    Und die Menge brüllte zurück: »Gepriesen sei Tolca! Gepriesen sei Iztac!«
    »Seid ihr bereit, Jünger?« Sie hörte zu tanzen auf. »Seid ihr bereit, eure Sünden, eure biophotonischen Sünden in den Fluß zu werfen, der aus Haß gemacht ist?«
    »Ja!« antworteten vierhundert Stimmen.
    »Seid ihr bereit, eure Instinkte zu zähmen und eure Zähne zu beschwichtigen? Seid ihr bereit, dem schwarzen, summenden Graben, der eure Träume zukleistert, Chimec zu zeigen, den Gott des Gehirns?«
    »Ja!«
    Bis jetzt hatte Francis geglaubt, daß diese Nacht Wirklichkeit war. Aber sein Glaube verließ ihn in dem Augenblick, als Vaxcala

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