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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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begann, ihre Schädeldecke abzunehmen.
    Doch dieses geschah tatsächlich. Die Hohepriesterin griff nach oben, strich glänzende Haarkringel zurück, preßte feste Finger und starke Handflächen an die Schläfen. Dann glitten ihre Hände hinauf, als wollten sie einen Helm entfernen. Die Chitzal-Narbe wurde sichtbar, trennte zwei Halbkugeln.
    Langsam, in Synchronbewegung, folgten alle Gläubigen ihrem Beispiel, und vierhundert Gehirne lagen nackt unter den Sternen.
    »Auf zum Tempel!« mahnte Vaxcala.
    Die Gehirnschalen in den Händen, drängte die Menge nach vorn. Und während Francis sich mitreißen ließ, tauchten alte Worte aus seiner Erinnerung auf. »Der Tolca-Tempel ist rings um uns.« Nun wußte er, was Mouzon Thu gemeint hatte. Der Tempel war die Mauer!
    In ihrem Entzücken nahmen die Pilger keine Notiz von dem Mann, der immer noch seine Gehirnschale auf dem Kopf trug und sich unbefugt in ihre Mitte geschlichen hatte, nicht einmal, als er die hundert Steinstufen hinaufstieg. Minuten später ging Francis, wo er noch nie gegangen war. Die Straße auf dem Mauerrand war von geschnitzten Falltüren durchsetzt, durch die Vaxcalas Herde nach unten kletterte. Ich habe mich schon zu vieler Frevel schuldig gemacht, um jetzt noch Einhalt zu tun, dachte er. Und so umfaßte er seine Laterne noch fester und folgte den frommen Scharen nach unten.
     
    Die erste Ebene des Tempels war ein Netzwerk aus Korridoren, die sich umeinander wanden und wieder zurückführten wie die Gänge einer Gruft, die sich kreuzten. Ohne den Beistand des Sternenlichts wurde Francis’ Laterne plötzlich machtlos, und er mußte sich vorantasten. Er spürte, daß sich Gestalten rings um ihn bewegten - Quetzalianer, die geheime Ziele ansteuerten, und er nahm etwas noch Merkwürdigeres wahr. Geräusche. Keine menschlichen Laute, obwohl da zahllose hastige Schritte tappten, ein papierdünnes Wispern hing in der Luft, aber er nahm auch ein Dröhnen und Schwirren und Summen wahr. Wenn Haie schnurren könnten, dachte er, dann müßte es sich so anhören wie im Tempel von Tolca.
    Der Boden stieg nun an. Francis folgte gewundenen Tunnels, wurde immer wieder von leeren Wänden aufgehalten, wandte sich stets in die Richtungen, die ihm seine Instinkte wiesen, bis er schließlich lockeres Erdreich unter den Füßen spürte.
    Ein schwaches Licht schimmerte vor ihm, etwa zehn Meter entfernt, umgab einen Mann, der zur Seite blickte. Die Kleider des Mannes und seine Haltung schienen nicht zu einem Zolmec-Gottesdienst zu passen, aber Francis nahm immer noch an, daß es sich um einen Quetzalianer handelte. Doch bei näherer Betrachtung erkannte er, daß der Fremde kein Quetzalianer war. Er war nicht einmal ein Fremder.
    Burne war zurückgekehrt! Als Francis zu seinem Freund laufen wollte, stieß er gegen etwas Hartes, Gläsernes, das sein Kinn aufschürfte und ihn zu Boden warf. Die Laterne entglitt seiner Hand, prallte gegen die Mauer, fest genug, so daß die Kugel zerbrach, das Öl ausfloß und der Korridor noch dunkler wurde.
    Unmöglich, einen Freund zu begrüßen, Burne… Francis blieb eine Minute lang liegen, die Nase im Erdreich vergraben, dann drehte er sich auf den Rücken, starrte blinzelnd auf die unsichtbare Wand und das phosphoreszierende Bild, das sich dahinter befand.
    Burne stand hinter Glas – um es genauer auszudrücken, hinter Transpervium, dieser verzerrenden Substanz, die Francis so gut kannte. Kein Wunder, daß Burne den Freund nicht sehen, daß er die Schreie nicht hören konnte. »Du Bastard, ich bin’s!« Und es überraschte Francis auch nicht, daß Burne seine Nähe nicht einmal intuitiv spürte, denn der Archäologe konzentrierte verständlicherweise all seine Sinne auf die atemberaubende splitternackte Quetzalianerin, die soeben zu seinen Füßen aufgetaucht war.
    Burne gehorchte seiner Leidenschaft, indem er seine Hose und das Hemd auszog. Er warf sich auf die Frau, die eine Gänsehaut bekam.
    Francis kauerte im Dunkel und spielte Voyeur. So etwas passierte vermutlich zum erstenmal in der Kirchengeschichte.
    Seltsam – das Gesicht der Frau war leer. Ganz offensichtlich genoß sie diesen Augenblick nicht, aber sie empfand auch keinen Abscheu. Ihre Gedanken schienen woanders zu weilen, vermutlich in Burnes Rucksack, auf den sie nun ein Auge richtete, einen Arm danach ausstreckte. Eine suchende Hand wühlte darin herum, bis sie gefunden hatte, was sie suchte – einen Glasmetallkäfig.
    Francis sprang auf, entzückt wie ein kleiner

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