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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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roten Kissen und verfolgte das Geschehen auf dem Holovisionsschirm mit fanatischen Augen, als würde sich das Bild in nichts auflösen, wenn ihre Konzentration nachließ. Es war offensichtlich, daß die Phantasien von ihr ausgelöst wurden. Sie entstanden in Ticomas nacktem Gehirn, kletterten durch die Elektrode nach oben, die aus der Kommissur des Großhirns ragte wie ein Thermometer, wanderten dann über Drähte, von Gummi umgeben, in den Projektor. Schließlich materialisierten sich die dunklen Bilder im Holovisionsschirm, wo sie auf das Auge der Träumerin trafen und neue, noch bösere Bilder weckten. Ein perfekter Kreis…
    Francis beschloß, sie in Ruhe zu lassen. Auf Zehenspitzen schlich er weiter, erreichte die andere Seite der Maschine und schlüpfte durch eine dreieckige Tür.
     
    Jetzt stand er in der Ecke eines architektonischen Wunders, eines Raumes, groß genug, um Morgs darin zu züchten, von einem dreiteiligen Gewölbe überdacht, das offenbar bis zum oberen Rand der Mauer hinaufreichte. Der Saal war leer bis auf die mürrischen Idole, die Fackeln trugen und an allen Wänden des zehneckigen Raumes Wache hielten, war gestaltlos bis auf die drei eckigen Türen in allen zehn Ecken. Francis fragte sich, wie viele solcher Hallen der Tempel wohl enthielt. Ein paar tausend – wenn die Mauer von den Ripsaw Mountains bis zu den Süddschungeln reichte.
    Neugierig lief er an den Wänden des Dekagons entlang, und bei jeder Tür verriet ihm ein verstohlener Blick, daß dahinter eine Kapelle mit einem Holojektor und einem Holovisionsschirm lag. Er ging noch einmal im Saal herum – diesmal langsamer –, vorbei an Szenen des Grauens, des Entsetzens, an Voyeuren, die sich an ihren geheimsten bösen Gedanken erfreuten, und jedesmal blieb er stehen und sah zu.
    In einem Holovisionsschirm peitschte ein Mann seinen Sohn aus, der absichtlich einen Aschenbecher zerbrochen hatte. In der angrenzenden Kapelle tobte ein Familienstreit, in dem es um sexuelle Untreue ging und der seinen Höhepunkt erreichte, als die Frau ihren Mann in einen Brunnen warf. Das nächste Drama handelte von einem Hund, der sich darauf spezialisiert hatte, Blumengärten umzugraben. Plötzlich stieß er auf eine Landmine, und einzelne Hundeteile flogen durch die Luft.
    Die Phantasien wurden immer grausamer, als Francis weiterging. In der fünften Kapelle stießen zwei rasende Lipoca-Wagen auf einer Steinbrücke zusammen. Beide Fahrer waren gleichermaßen an dem Unfall schuld, aber nichts konnte den älteren, einen Mann mit angenehmen Gesichtszügen, davon abbringen, seiner Kontrahentin – einem pickeligen Teenagermädchen – die ganze Schuld in die Schuhe zu schieben und es dann auf eine Weise zu bestrafen, die unvereinbar mit dem Grad des Verbrechens war. Er vergewaltigte sie zu Tode und warf dann die Leiche über das Brückengeländer in den Bach.
    In der sechsten Kapelle erbebte ein kleiner Junge vor Eifersucht, während ein neugeborenes Baby mit elterlicher Liebe überhäuft wurde. Als alle zu Bett gegangen waren, lief der Junge ins Babyzimmer, kidnappte seine Schwester und verscharrte sie bei lebendigem Leib in einem unmarkierten Grab hinter dem Räucherschuppen.
    In der siebenten Kapelle sah Francis die Lipoca-Wagen wieder zusammenkrachen, aber diesmal schrieb der Teenager das Drehbuch. Das Mädchen verzauberte den Lipoca mit heiser gemurmelten Sprüchen, und das sanfte Tier verwandelte sich in einen schnaubenden reißenden Karnivoren, riß sich aus seinem Geschirr los, stürzte sich auf den Mann mit dem freundlichen Gesicht. Der sprang von seinem Wagen, überquerte die Brücke, erreichte die Straße, kam aber nur zehn Meter weit, bis er von den langen gezackten Stoßzähnen zerfleischt wurde, die auf magische Weise aus den Nüstern des Lipoca gewachsen waren.
    Die achte Kapelle war leer.
    Das vorletzte Drama spielte sich in einem Grundschulklassenzimmer ab. Als Francis ankam, hatte die Lehrerin Kinder, die ständig schwatzten, nicht mit ihr redeten, sich nicht an ihre Anweisungen hielten oder ihre Anweisungen auf die falsche Art befolgten, anscheinend unfähig waren, sich auszudrücken, sich zu weitschweifig ausdrückten und in den Nasen bohrten. Sie heiterte sich auf, indem sie einen Laternenölkanister öffnete, seinen Inhalt freizügig verschüttete, ein Streichholz entzündete und ihre Schützlinge in Brand steckte.
    Francis betrat die letzte Kapelle. Irgendwie wußte er, was ihm der Zufall nun bringen würde. Er traf kurz vor dem

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