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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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seinem Glauben widersprechen.«
    Er wußte nicht, wo er beginnen sollte. Hätte er zehn Münder besessen, er hätte zehn verschiedene Dinge gleichzeitig gesagt. So entschied er sich für die Antwort: »Aber was ihr träumt, ist so schrecklich.«
    »Die dunkle Hälfte des menschlichen Erbes zu leugnen, so zu tun, als besäßen wir überhaupt keine unaussprechlichen Impulse – das wäre Heuchelei.« Sie setzte das Teewasser auf. »Du hast recht – die quetzalianischen Phantasiegebilde sind schrecklich. Warum auch nicht? Gedanken haben keine messerscharfen Kanten. Sie schweben über der Welt dahin, ohne sie zu verändern.«
    »Aber es muß doch geistige Auswirkungen haben, solche Dinge zu denken. Das muß ungesund sein – vor allem für Kinder.«
    »Sicher, das ist eine plausible Hypothese. Vielleicht hast du irgendwann einmal Lust, meinen Bruder in der Vij-Arena zu verdreschen. Aber wenn du dir um die Gesundheit Sorgen machst, dann bedenke bitte, daß die Menschheit schon lange, bevor der Tolca-Tempel gebaut wurde, krank war. Zolmec ist eine starke Medizin, aber manchmal muß sich der Gesundheitszustand erst drastisch verschlechtern, damit er sich bessern kann, also wollen wir nicht um den heißen Brei herumreden. Zerbrechen wir uns nicht den Kopf über häßliche Falten oder Dinnerpartys oder über das, was die Nachbarn denken.«
    Dieser Gedankengang überraschte Francis, und dessen Logik faszinierte ihn. »Eine andere Form der Homöopathie…«
    »Sollen wir der Krankheit einen Namen geben? Manche Leute sind Epileptiker, manche sind Hämophile – aber alle von uns sind Karnivoren. Fühl doch mal nach deinen Eckzähnen. Die sind viel zu groß – eine evolutionäre Erinnerung. Früher haben wir diese Kampfzähne wahrscheinlich auf die gleiche Weise benutzt wie die Jaguars. Heute sind wir das große Paradoxon der Natur, das Raubtier mit den albernen kleinen Zähnchen.« Schnell und präzise sprudelten die Worte aus ihr hervor, als habe sich diese Rede schon seit Opochen in ihr aufgestaut.
    »Wir haben unsere Waffen eingebüßt, aber nicht den Drang, sie zu benutzen. Und so stellten wir gefälschte Waffen her – Speere und Gewehre. Aber Zolmec bekämpft das Feuer mit dem Feuer, die Technologie mit der Technologie.« Sie nahm den Teekessel vom Feuermoosherd und ließ ein Kräutersäckchen in das trübe Wasser gleiten.
    Francis berührte seine Eckzähne. »Aber eine Welt ohne Leidenschaft, Tez – ihr steuert auf die totale Sterilität zu!«
    »Glaubst du, daß es hier bei uns keine Leidenschaften gibt? Wir haben unsere Künste, wir lieben – und wir hassen auch.«
    »Trotzdem – euer Fassaden-Make-up müßte sich ändern.«
    »Also wirklich! Nach hundert Gottesdiensten hat der Durchschnitts- Quetzalianer ein ganz spezielles Make-up. Er ist friedlich, verletzlich, unfähig, einem anderen Schaden zuzufügen. Man könnte glauben, daß ein solcher Mensch die Riten nur selten besucht, nicht jede Opoche. Aber wenn man den Gottesdienst ein- oder zweimal versäumt – warum nicht gleich zwanzig- oder fünfzigmal? Und was ist man danach? Ein Erdenmensch? Ein Neurovore? Dies ist der Grund, warum wir Zolmec so reizvoll wie möglich gestalten müssen.«
    »Und deshalb habt ihr die Technologie aus dem Alltagsleben verbannt.«
    Sie griff nach dem Teekessel, goß einen bernsteinfarbenen Strahl in ihre Tasse. »Genau. Verbotene Dinge werden nicht vergessen, nicht abgestreift. Sie nisten sich in den Wohnungen der Phantasie ein. Sie erregen Ehrfurcht, und die Leute sehnen sich danach.«
    »Aber die Holojektoren müssen natürlich von Zeit zu Zeit repariert werden, und deshalb braucht ihr die Geistlichkeit.«
    »Mit Lötkolben für die Bischofsstäbe.«
    Francis nahm sein Messer und verwundete eine Melone. »Und was passiert, wenn ein Quetzalianer in dieser oder jener Opoche keine feindseligen Gedanken hegt?«
    »Das passiert nie. Schau dir doch dein eigenes Leben an! Irgend etwas geschieht immer. Zum Beispiel ärgere ich dich in diesem Augenblick. Und die wildesten Träume entspringen dem Ärger. Das Kurieramt schickt dir einen Brief mit der Nachricht, man würde ein großes Paket bei dir abliefern und du müßtest daheim bleiben, um eine Quittung zu unterschreiben. Du verschwendest also einen sonnigen Nachmittag, und niemand kommt. Einmal habe ich dem Leiter des Kurieramts den Daumen abgebissen.«
    »Igitt!«
    »Und gegessen.«
    Francis versank in einem langen Schweigen. Schließlich schluckte er ein Stück Melone und fragte:

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