Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
Vom Netzwerk:
»Wirst du nicht zu spät zur Arbeit kommen?«
    »Ich komme gern zu spät, wenn ich dir das alles begreiflich machen kann.« Sie umfaßte ihre Teetasse, ließ sich in einen Lipoca-Wollsessel fallen. »Ich müßte dir die ganze Geschichte erzählen – angefangen mit allem, was vor der Mauer und Zolmec und den anderen Dingen geschehen ist.«
    »Ich will es begreifen«, erwiderte Francis im herzlichsten Ton, den sie an diesem Tag bis jetzt zu hören bekommen hatte. »Erzähl.«
    Er fand ein Ei, briet es, legte es auf seinen Teller, vergaß dann aber, es zu essen.
    Die Geschichte, die Tez erzählte, begann mit einer Frage: »Wenn gewisse Individuen niemals geboren worden wären – wäre die Welt dann anders?« Ganz sicher wäre die Eden Drei, die Welt von Tez’ Ahnen, anders gewesen, wäre der Prophet nie geboren worden.
    Er wurde in eine Zivilisation hineingeboren, die jener an Bord der Schwesterarche glich, also einem Faksimile der Erde. In der Eden Drei gabes Friseursalons und Kegelbahnen, Kioske und Plastikparks, getrocknete Feigen und Zuckerwatte. Es war eine schöne, geordnete Welt – und sie war gerecht. Innerhalb von drei Generationen hielt man sich an das Toleranzgebot. Der Relativismus war das einzige Credo dieser Stadt. In der vierten Generation erblickte der Prophet das Licht der Welt, predigte fanatisch von der Gottheit des menschlichen Gehirns, und niemand wußte, was man mit ihm machen sollte.
    Dem Mythus zufolge, gebar ihn seine Mutter, eine Brennstoffversorgerin, die Reaktoren speiste, in einem Maschinenraum, und mehrere Dekaden nach seinem Tod begannen Pilger den erloschenen Atomschmelzofen zu besuchen, den man traditionsgemäß als seine Wiege bezeichnete. Als Junge lernte er von seinen Eltern die unverzichtbare Kunst, die Maschinerie der Arche zu speisen. Als heranwachsender Junge hatte er Visionen. Nach seinem dreizehnten Geburtstag glaubte er über genügend politisches Wissen zu verfügen, um seine Visionen zur Staatsreligion der Eden Drei zu erheben.
    Wie die meisten Visionäre sah der Prophet die ferne Zukunft glasklar, die näherliegende dagegen durch Milchglasscheiben und die unmittelbare Zukunft durch eine dunkle Brille, die in Teer getaucht worden war. Irr der fernen Zukunft sah er eine Neue Erde, die von Aufruhr beherrscht wurde, eine Neue Erde, wo Selbstsucht das Wichtigste war, woran die Menschen glaubten, und wo Tausende sinnlos unter Waffen und Hunger litten. Und er sah, daß die Eden Drei-Kolonie, um einem ähnlichen Schicksal zu entgehen, ihre Aggressionen ebenso auslöschen mußte wie die Trilobiten. Was er nicht sehen konnte, waren die Dekaden direkt nach seinem Tod, da seine Ideen jenseits allen Wiedererkennens von einem signifikanten Prozentsatz seiner Jünger, dem widerwärtigen Kult der Gehirnfresser, entstellt wurden. Vielleicht war es ein Glück, daß er dieses Grauen nicht miterleben mußte. Er hätte in tiefer Verzweiflung kapituliert und der Welt niemals jenen Weg gewiesen, der allein zum Frieden führte.
    Der Prophet lehrte, daß jedes menschliche Gehirn ein Wunder ist, eine heilige Maschine, deren Kräfte über sein eigenes Begreifen hinausgehen. Man benutzt heiliges Wasser nicht, um Menschen zu ertränken, und den heiligen Gral nicht, um sie damit zu erschlagen, und was heilige Organe betrifft, so dürfen sie nur gute Werke vollbringen.
    Er hatte sich nie die Mühe gemacht, seine Ideen in die Praxis umzusetzen, bevor er starb. Seinen Schülern erklärte er die Theorie, daß die bösen Neigungen des Gehirns periodisch gedämpft werden könnten durch Orgien uneingeschränkten, aber harmlosen Frevels. Ein Holojektor, mit Drähten versehen, die eine neurologische Energiezufuhr aufnehmen und mit einem Spezialbildschirm aus Transpervium verbunden würden, könnte jenen Phantasien eine so greifbare Existenz verleihen, daß sie außerhalb des Körpers zum Leben erwachten – kraftvoll, pulsierend, imstande davonzufluten.
    Da er die Verletzlichkeit der neuen Maschinen voraussah, forderte der Prophet, die Eden Drei dürfe nicht auf dem fruchtbarsten Planeten landen, auf dem Glanzstück aller eroberten Planeten, dem vierten. Dorthin würde das Schwesterschiff fliegen. Statt dessen müßten sie in den Asteroidengürtel eintauchen und eine »kleine blinde Kugel suchen, von der die Sonne aufgesogen wird«. Und sie müßten »um die Kugel kreisen, bis sie sehen würden, daß sich die Wolkendecke teilt. Dies ist Luta – die neue Heimat.«
    Der Prophet starb, und man unternahm

Weitere Kostenlose Bücher