Der Wein des Frevels
Francis’ Ohren und Nasenlöcher zu drücken, so als wolle er undichte Stellen verstopfen. Francis lag im Sumpf eingebettet und heulte gottserbärmlich, als Robert Poogley aufstand und nach der Aktentasche griff. Er riß sie auf, zerrte die Zigarrenkiste heraus und war das erste Kind, das die Klasse betrat.
Robert Poogley, der Insektenpirat, wuchs zu einem erfolgreichen Holograph mit ansehnlichem Schnurrbart heran. Seine Portraits von unaussprechlich süßen Kindern wurden in den Bankgebäuden auf der ganzen Nerde ausgestellt. Die Bilder narrten jedermann, außer Francis, der hinter die Fassaden der strahlenden Gesichter blickte und die Gier nach den Motten anderer Leute erkannte.
Francis hatte inzwischen begriffen, daß die Gewalt ein natürliches, instinktives Attribut und der menschlichen Spezies eigen war.
Doch zu Zeiten des Insektenraubs hatte er noch die Ansicht vertreten, die Gewalt sei nichts weiter als eine unkomplizierte Methode, sich alles anzueignen, dessen man habhaft werden wollte.
Die merkwürdige Toleranz der Welt, was Gewalttätigkeiten betraf, tauchte in Francis’ historischen Studien immer wieder auf, vor allem in der Geschichte längst vergangener Jahrhunderte. Auf der Erde, der Heimstatt seiner Vorväter, hatte eine einzelne Person ganz eindeutig den Tod mehrerer Mitmenschen verursachen können und war trotzdem als eine Art Held in die Annalen der Geschichte eingegangen. Damals hatte Francis die biologische Unvermeidlichkeit der Gewalt noch nicht verstanden und war verwirrt gewesen. Warum, so fragte er sich, waren die Namen von Samson, Napoleon, Jeanne d’Arc, Alysses S. Grant und Julius Cäsar keine obszönen Ausdrücke, die man nach Einbruch der Dunkelheit in verächtlichem Flüsterton aussprach? Dieselben Lehrer, die es nicht über sich brachten, Wörter wie Scheißkopf oder Kotzbrocken in den Mund zu nehmen, diskutierten ganz offen und ungeniert über Alexander den Großen.
Er fand niemanden, der eine Antwort auf diese Frage wußte. Und bis er den Planeten Carlotta betrat, fand er auch niemanden, der diese Frage gestellt hätte.
Francis begann nicht wegen seiner geliebten Insekten, sondern wegen seines Vaters Biologie zu studieren. Am Nachmittag eines Gammatages führten die beiden den Haushund spazieren, einen nervösen Collie namens Alice. Dem Jungen entging nicht, daß Alice an keinem Baum oder Laternenpfahl urinieren wollte, wenn sie vorher nicht daran geschnüffelt hatte. In jenen Tagen dachte Francis oft über den Urin nach, da man kürzlich eine Diabetes bei ihm diagnostiziert hatte. (Schon den alten Griechen auf der Erde war nicht verborgen geblieben, daß sich Honigbienen in den Urin eines Diabetikers verlieben.) Und auf dieses Phänomen führte Francis seine lebenslange Begeisterung für Insekten zurück. Das Wort Diabetes entzückte den jungen Francis, und er assoziierte es nicht so sehr mit einer Krankheit, sondern vielmehr mit einem magischen Planeten in einer anderen Galaxis.
»Hunde urinieren nicht, wenn sie nicht wissen, daß schon ein anderer Hund an der betreffenden Stelle war«, antwortete sein Vater, sichtlich bemüht, eine ausreichende Erklärung zu finden. Er war ein gutherziger Mann, dessen ausdrucksloseste Miene immer noch an ein freundliches Lächeln erinnerte.
»Aber was hat denn der allererste Hund von der Welt gemacht?« wollte Francis wissen. »Der Hund, der vor allen anderen Hunden auf der Erde lebte? Konnte er denn überhaupt pinkeln?«
»Du stellst die richtigen Fragen, Francis. Dies ist das Merkmal des geborenen Wissenschaftlers. Warum willst du nicht Wissenschaftler werden?«
»Okay«, beschloß Francis. Obwohl er niemals herausgefunden hatte, wohin der erste Hund von der Welt sein Bein erhoben hatte.
Die Nerde fuhr fort, die Sonne zu umkreisen, maß die Jahre, und der Segen des Erwachsenwerdens kam über Francis herab. Nun durfte er alles – abends lange aufbleiben, sich den Appetit verderben, seine Milch verschütten, sein Essen hinunterschlingen, seine Socken verlieren, ohne sie suchen zu müssen, seine Verwandten hassen und nostalgischen Neigungen frönen. Er wurde Entomologe.
Ein Teilzeitposten als Dozent am Galileo-Institut sicherte ihm ein ausreichendes Einkommen und ließ ihm genügend Freizeit, so daß er sich seinem Lieblingsanliegen widmen konnte – dem geistigen Wesen der Bohnenläuse. Doch er wurde niemals beauftragt, im großen Amphitheater zu dozieren, das über eine computerisierte Atmosphäre verfügte und dessen
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