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Der Wein des Frevels

Der Wein des Frevels

Titel: Der Wein des Frevels Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: James Morrow
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blutend, kreischend –, schwirrte bereits eine zweite Salve durch die Luft. Die Anführer ignorierten das Winseln der Sterbenden und stürmten auf den Sand hinaus. Jeder erteilte seine Befehle in kläffenden Lauten, die in der Neurovorensprache bedeuteten: »Rückt so weit vor, daß sie in Reichweite unserer Speere sind!«
    Die Neurovoren griffen in einer gewaltigen Welle an, die immer breiter wurde. Weitere Pfeile trafen ihr Ziel, die Welle ließ Leichen hinter sich. Als ihre Peiniger in Speerwurfweite waren, hatten die wilden Stämme die Hälfte ihrer Krieger verloren.
    »Die Schilde!« schrie Burne, als die Neurovoren nach einem geknurrten Kommando ihrer Anführer stehenblieben und die Speere nach hinten schwangen. Jeder Soldat riß einen großen ovalen Panzer von der Schulter seines Reittiers, der einst eine Luta-Schildkröte beschirmt hatte. Wie Hagelsteine prallten die Speerspitzen gegen die erhobenen Rückenschilde, und die Schäfte fielen zu Boden.
    Aber irgend etwas stimmte nicht. Statt triumphierend zu brüllen, schnappte die Erste Armee verwirrt nach Luft. Von der Speerattacke überrascht, begannen die sonst so phlegmatischen Lipocas Amok zu laufen, sprengten in wilden Kreisen herum.
    Was kann denn noch alles zum Teufel gehen? Die Frage amüsierte Burne beinahe, als er abstieg, den Insulinkasten aus seinem Hemd und eine Ampulle aus seiner Satteltasche zog. Okay, dachte er, als er die Spritze füllte, wenn Mutter Natur es so haben will, dann werden wir eben diese gottverdammten Lipocas in Soldaten verwandeln.
    Die Neurovoren machten sich den Wahnsinn der Tiere zunutze, liefen heran, sammelten ihre Speere wieder ein und schleuderten sie auf die Rücken ihrer Feinde. Dutzende von Quetzalianern wurden durchbohrt, fielen kreischend aus den Sätteln. Burne rammte die Injektionsnadel in die Flanke des erstbesten Lipocas, der an ihm vorbeikam.
    »Was tun Sie, um Tolcas willen?« rief der Reiter.
    »Ich verschaffe Ihnen ein Reitpferd, das Ihrer würdig ist!« Aber bevor Burne den Kolben hineinstoßen konnte, sprang die verrückte Kreatur davon und nahm die Spritze mit.
    Auch jetzt weigerte sich Burne noch immer, die Möglichkeit zu akzeptieren, daß seine Armee kurz vor dem Rückzug stand. Er rannte um das Schlachtfeld herum und munterte seine Soldaten auf:
    »Steigt ab und kämpft!«
    Minnix stieg ab, doch er kämpfte nicht. Widerstrebend zog er sein Schwert. Neurovoren, Quetzalianer, reiterlose Lipocas wirbelten um ihn herum, narkotisierten seinen Verstand. Vergeblich versuchte er zu denken. Habe ich heute getötet? Nur verschwommene Erinnerungen antworteten ihm – Erinnerungen an die Pfeile, die er auf Neurovorenorgane gerichtet hatte. Dann hatte er die Sehne losgelassen, die Augen geschlossen, bevor er sehen konnte, was die Pfeilspitzen anrichteten…
    Als Minnix nun vorwärts taumelte, erblickte er Dutzende seiner Kameraden, hingestreckt im Sand, mit Speeren im Rücken. Viele Schäfte schwankten nicht, und die Szene sah aus wie eine gigantische Insektensammlung, die plötzlich zum Leben erwacht war. Dieses Bild entfachte seine Entschlußkraft von neuem. »Rache!« heulte er, stürzte sich ins Kampfgetümmel, mit hochgeschwungenem Schwert. Bald fand er ein Leben, das er beenden konnte. Die Waffe des Neurovoren, eine plumpe Steinscheibe, an einen Holzgriff gebunden, war der Rüstung der Ersten Armee nicht gewachsen, ebensowenig der Schädel des Neurovoren. Enthauptet fiel der Wilde in den Sand.
    »Friß dein eigenes Gehirn, du…«, krächzte Minnix, dann unterbrach er sich, als er den Quetzalianer erkannte, der an seiner Seite kämpfte. Es war Ras, von Kopf bis Fuß mit glänzendem Blut besudelt. »Sie sind von den Toten auferstanden!« keuchte Minnix.
    »Ich war nie dort!« brüllte Ras und vergrub sein Schwert in einer Leber.
    Die Schlacht tobte weiter wie ein langsam sterbendes Tier. Der Sand wurde mit Blut, Urin, Exkrementen und Erbrochenem zementiert. Schreie vibrierten in der stinkenden Luft. Es war ein Tag, der von allem Anstand, von alter Heiterkeit abgeschnitten worden war.
    Minnix schwelgte in seiner Macht. Nie zuvor war er einem Gehirnfresser ebenbürtig gewesen, geschweige denn dessen Meister. Nutze die Gelegenheit, sagte er sich, damit du eine Kriegsgeschichte erzählen kannst, die deine kleinen Brüder faszinieren wird.
    Er schwang sein Schwert, und ein Arm segelte davon, zog einen Kometenschweif aus Blut hinter sich her. Der Neurovore in seiner schmerzhaften Unvollkommenheit bot einen

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