Der Wein des Frevels
einfach wissen, ob ich es noch kann.«
»Ja – ich verstehe…« Und ob du es nicht kannst, dachte er. Bald half ihm der quälende Schmerz in seinem Knie einzuschlafen.
Wie ein brennendes Auge glitt Iztac über den kalten Morgenhimmel. Vor Burnes Armee dehnte sich die Wüste aus, wenig einladend. Burne studierte die ferne Oase zwei Minuten lang, prägte sich das Gelände ein und beorderte Ras zu sich, einen Astrologen mit schütterem Haar, der über legendäre seherische Kräfte verfügte. »Sie haben uns noch nicht entdeckt«, sagte der Mann nervös und rieb den Hals seines Lipocas. »Alles ist so wie immer.«
»Wie viele sind es?«
Diesmal brauchte Ras dreißig Sekunden. »Fünf – nein, sechs schleichen sich am Oasenrand an wilde Chitzals heran. Zehn kauern dahinter unter den Bäumen.«
Jetzt müssen wir angreifen, dachte Burne. Die Wilden werden wütend sein und unseren Pfeilen entgegenlaufen – oder sie geraten in Panik und ziehen sich zurück. Es ist mir egal, wofür sie sich entscheiden.
Die Erste Armee von Aca entwickelte sich zu einem großen Kreis rings um die Oase, »um dem Feind in die Flanke zu fallen, ihn zu umfassen und zu verarschen«, wie Burne es ausgedrückt hatte. Auf ein verabredetes Kommando ihres Generals hin, dem lauten Ruf: »Vorrücken!«, der von Offizier zu Offizier weitergegeben wurde, trotteten die Soldaten nach vorn, und der Kreis verengte sich.
»Stoppen Sie uns, wenn wir nur noch fünfzig Meter von der Oase entfernt sind!« schrie Burne zu Ras hinüber. Fünfzig Meter – das war genau die richtige Entfernung für einen quetzalianischen Pfeil.
»Jawohl!« rief Ras zurück und beobachtete fasziniert die näher rückende Oase. Die Blumengesichter und die silbernen Wasserfälle erstaunten ihn so sehr, daß er wie hypnotisiert war. Im letzten Moment erinnerte er sich an seine Order. »Jetzt!«
»Halt!« brüllte Burne.
»Halt!« antworteten seine Offiziere, und die Armee blieb stehen.
Ras’ legendäre Augen wurden nicht mehr gebraucht, denn aus dieser Entfernung konnten alle sehen, daß die Oase vor Aktivität brodelte. Die Chitzaljäger hatten sich ins Zentrum zurückgezogen, kreischten sich warnende Rufe zu. Zunächst reagierte das Camp mit der Konfusion einer Termitenkolonie, deren Nest von einem stochernden Zweig in einer Gorillafaust aufgerissen wird. Dann begannen die Aktionen langsam in geordneten Bahnen zu verlaufen. Animositäten zwischen einzelnen Stämmen wurden hastig bereinigt, Bündnisse geschlossen. Dutzende von Neurovoren strömten aus den Tiefen der Oase heraus, wo sie noch vor wenigen Minuten seelenruhig ihre Kinder gebadet oder verstohlen nach Rivalen gesucht hatten, deren Gehirne sie fressen könnten. Dutzende fuhren aus dem Schlaf hoch, sprangen von den Bäumen. Bald nach dem ersten Warnschrei war jeder kampftaugliche Gehirnfresser mit Speer und Axt bewaffnet und rannte nun an den Oasenrand. »Sie haben uns gesehen!« Ras’ Stimme klang eher begeistert als erschrocken.
Burne studierte die feindlichen Massen. »Die Pfeile!«
»Pfeile!« kam das Echo. Tausend Pfeile glitten aus den Köchern.
»Auflegen!« schrie Burne.
»Auflegen!« kam das Echo. Tausend Sehnen schmiegten sich an die Nocks.
»Ziehen!« brüllte Burne.
»Ziehen!« antwortete das Echo.
»Zielen!«
»Zielen!«
Tausend Pfeilspitzen richteten sich auf Bäuche, Herzen, Köpfe.
»Feuer!«
»Feuer!« Doch zunächst schwirrte kein einziger Pfeil von der Sehne. Burne wartete auf den Tod der Neurovoren, und nach zwanzig Sekunden riß ihm die Geduld. »Feuer, habe ich gesagt!« schrie er wütend. »Öffnet die Finger! Tötet eure Feinde!« Die Sehnen blieben straff gespannt. »Feiglinge! Schleimer!« Nichts. Hilflos wandte er sich zu Ras. »Was ist los, Astrologe?«
Ras entspannte sich und brachte seinen Pfeil in eine wirkungslose senkrechte Position. »Tut mir leid, General, aber die Neurovoren haben nichts getan, das mich veranlassen könnte, sie zu töten.«
»Die Neurovoren haben Ihre Landsleute verschlungen und Ihrer Welt den Seelenfrieden geraubt, der ihr zusteht!«
»Der Friede der Seele ist relativ.«
»Ihr Eierköpfe, das ist eine Schlacht und kein philosophisches Seminar!«
»Der Feind verdient noch eine Chance.«
»Wenn diese Monster beschließen, uns anzugreifen, dann wird es nicht einmal zwei Minuten dauern, bis wir in der Reichweite ihrer Speere sind. Und zwei Minuten später können sie ihre Äxte auf uns schleudern.«
»Dann werden wir darauf warten. Wir sind
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