Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
regelmäßig zur Kirche?«
    »Das ist eine persönliche Frage.«
    »Tut mir leid.«
    »Ja, das tue ich.«
    »Und zur Beichte?«
    »Ja.«
    »Was beichtest du?«
    Seine Fragen nerven sie. Niemand hat sie je so ausgehorcht. Nicht
einmal die Nonnen. Ihre Fragen waren vorhersehbar und mechanisch. Wie der
Katechismus.
    »Ich frage nur so«, sagt er leicht entschuldigend. »Was ein Mädchen
wie du wohl zu beichten hat.«
    »Oh, da gibt’s immer was«, sagt sie. »Hauptsächlich unreine
Gedanken.«
    »Was heißt unrein?«
    »Unrein«, sagt sie und sucht nach einer Erklärung. »Bösartig,
wollüstig oder haßerfüllt.«
    »Wie sind deine?«
    »Haßerfüllt.«
    Thomas geht mit ihr in ein Imbiß-Restaurant am Strand und führt
sie in eine Nische in der Nähe des Eingangs mit Sitzen, die so rot sind wie die
des Autos. Sie trägt einen grauen Pullover zu ihren Latzhosen und leichte
Slipper. Sie ist verlegen wegen ihres Haars, das sie im Spiegel der
Sonnenblende mit den Fingern zu kämmen versucht. Thomas sieht weg, während sie
das tut. Ihr Haar ist ein hoffnungsloser Fall, sie gibt auf.
    »Das nächste Mal bringe ich ein Tuch mit«, sagt er. »Ich lege es ins
Handschuhfach.«
    Sie ist entzückt, daß er annimmt, es gäbe ein nächstes Mal.
    Es ist, als hätte sie jahrelang nichts zu essen bekommen. Sie
ißt ihren Hamburger mit Fritten, seinen Cheeseburger, trinkt beide Milchshakes
und erlebt das erste von Dutzenden von Malen, daß Thomas sein Essen kaum
anrührt.
    »Bist du nicht hungrig?« fragt sie.
    »Nicht wirklich«, antwortet er. »Iß nur.«
    Was sie dankbar tut. In dem dreistöckigen Haus scheint es nie genug
zu essen zu geben.
    »Ich kenne Michael. Wir spielen Hockey zusammen«, sagt Thomas.
    Schulmannschaft Hockey 2,3.
    »Ihr spielt schon?« fragt sie.
    »Noch nicht«, antwortet er. »Wir fangen bald an. Ich sehe Michael
gelegentlich.«
    »Hast du Cousins?« fragt sie leichthin.
    »Fast keine. Nur zwei.«
    »Laß mich raten. Du bist in der Episkopalkirche.«
    »Eigentlich in gar keiner. Warum wohnst du nicht bei deinen Eltern?
Ist ihnen irgendwas passiert?«
    »Meine Mutter ist gestorben«, antwortet sie und tupft ihr Ketchup
mit dem Brot auf. »Bei einem Busunfall. Mein Vater ist danach einfach irgendwie
verschwunden.«
    »Weil sein Herz gebrochen war?«
    »Nicht wirklich.«
    »Tut mir leid.«
    »Das ist lange her.«
    Er fragt sie, ob sie noch etwas essen will.
    »Nein«, sagt sie. »Ich bin total satt. Wo wohnst du?«
    »Allerton Hill«, sagt er.
    »Das hab ich mir gedacht.«
    Er sieht weg.
    »Sind wir an deinem Haus vorbeigefahren?« fragt sie.
    »Ja.«
    »Warum hast du’s mir nicht gezeigt?«
    »Ich weiß nicht«, antwortet er.
    Später sagt er: »Ich möchte Schriftsteller werden.«
    Es ist das erste von Hunderten von Malen, daß Linda Fallon jemand
sagt, er oder sie wolle Schriftsteller werden. Und weil es das erste Mal ist,
glaubt sie ihm.
    »Theaterschriftsteller, glaube ich«, sagt er. »Hast du O’Neill
gelesen?«
    Tatsächlich hat sie Eugene O’Neill gelesen. Ein Jesuitenpater in der
katholischen Mädchenschule ließ die Klasse Eines langen
Tages Reise in die Nacht lesen, weil er glaubte, daß einige der Mädchen
ihre Familien darin wiedererkennen könnten. »Sicher«, sagt sie.
    »Ablehnung und Unverantwortlichkeit«, sagt er.
    Sie nickt.
    »Der Nebel. Die Auflösung des Nebels.«
    »Das Auslöschen der Vergangenheit«, sagt sie.
    »Richtig«, antwortet er jetzt aufgeregt. »Genau.«
    Er sitzt halb zur Seite gedreht in der Nische und hat eines seiner
langen Beine ausgestreckt.
    »Hast du deine Hausarbeit schon geschrieben?«
    »Mein Gott, nein«, sagt sie.
    »Kann ich dir später Keats vorlesen?«
    »Keats, den Dichter?«
    Von Zeit zu Zeit kommen Jungen, die Thomas kennen, an der Nische
vorbei, sie versetzen ihm einen kleinen Stoß ans Bein oder klopfen mit den
Fingerknöcheln auf die Resopalplatte des Tischs. Nie werden Worte gewechselt,
aber die Jungen taxieren Linda. Es ist eine Art Pantomime.
    In einer Nische auf der anderen Seite des Raums erkennt Linda Donny
T., der letzte Nacht dabeigewesen ist. Er trinkt Cola und läßt sie nicht aus
den Augen. Haßt er sie, weil sie ihm bewiesen hat, daß er im Irrtum war? Ja,
denkt sie, das tut er.
    Mädchen, die an einem Tisch in der Mitte des Raums sitzen,
beobachten sie ebenfalls. Dann drehen sie sich um, flüstern sich etwas zu,
Bemerkungen, die sich eindeutig auf Linda beziehen. Sie registriert die
perfekten Locken der anderen, ihre Röcke, die Nylons

Weitere Kostenlose Bücher