Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
wäre auch heillos: Wenn sie einmal damit
anfinge, könnte sie nicht mehr aufhören.
    »Was hast du?«
    Sie kann nicht antworten. Wie könnte sie es erklären? Niemand weint
wegen des Lichts. Es ist absurd.
    Sie schnieft, versucht, den Schleim zurückzuhalten, der ihr aus der
Nase zu laufen droht. Sie hat kein Taschentuch. Thomas durchsucht seine Taschen
und fördert einen Kaugummi, eine Schachtel Zigaretten und ein Arbeitsblatt aus
der Schule zutage. Nichts davon kann sie gebrauchen. »Nimm deinen Ärmel«, sagt
er.
    Gehorsam tut sie’s. Sie holt tief Luft durch die Nase.
    »Du bist …«, beginnt er.
    Aber sie schüttelt den Kopf, als wollte sie ihn warnen weiterzusprechen.
Widerstrebend muß sie das Licht loslassen. Sie muß sich zwingen, darüber
nachzudenken, was auf dem Arbeitsblatt stehen könnte, wie sie später auf der
Matratze sitzen und ihre Hausaufgaben machen wird, über ihre Tante – Gedanken,
die die Tränen bestimmt versiegen lassen.
    »Linda«, sagt Thomas und nimmt ihre Hand.
    Sie drückt sie und gräbt die Fingernägel hinein, als müßte sie sich
festhalten, um nicht umzusinken. Er rückt näher, um sie zu küssen, aber sie
wendet den Kopf ab. Seine Lippen streichen über ihren Mundwinkel.
    »Ich kann nicht«, sagt sie.
    Er läßt ihre Hand los. Er rückt etwas von ihr ab, nimmt eine
Zigarette aus der Packung und zündet sie an.
    »Ich mag dich, Thomas«, sagt Linda, weil es ihr leid tut, ihn
verletzt zu haben.
    Er verzieht den Mund und nickt, als wollte er sagen, er glaube ihr
kein Wort. »Du scheinst rein gar nichts von mir zu wollen«, sagt er.
    »Es ist nur …«, beginnt sie.
    »Es ist nur, was?« fragt er tonlos.
    »Es gibt Dinge, die du nicht von mir weißt«, sagt sie.
    »Dann sag sie mir doch«, drängt er.
    »Ich kann einfach nicht.«
    »Warum?«
    »Ich kann nicht.«
    »Es gibt nichts, was ich dir nicht sagen würde«, erwidert Thomas. Er
klingt gekränkt.
    »Ich weiß«, sagt sie und fragt sich, ob das wirklich stimmt. Jeder
hat Dinge, private, peinliche Dinge, die er für sich behalten will.
    Ein Schauer überläuft sie, als sie Atem holt. »Laß uns das nicht
tun, ja?«
    In einem dunklen Wagen, der später im Lauf der Woche am Strand
parkt, ist es ganz ähnlich. Sie hören die Brandung, ohne sie zu sehen. Die
Fenster sind von ihrem Atem beschlagen. Außerdem liegt ein rauchiger Film auf
der Windschutzscheibe, auf den sie ihren Namen schreiben könnte. Sie starrt auf
die verrosteten Stellen unterhalb des Cabrio-Verdecks.
    »Also, wo willst du dich bewerben?« fragt Thomas.
    »Bewerben?«
    »Fürs College. Du bist intelligent. Man würde dich überall
annehmen.«
    Er hat einen karierten Schal um den Hals geschlungen. Es ist noch
nicht spät, erst sieben Uhr. Sie sollte in der Bibliothek sein, er beim
Eishockey-Training.
    »Ich weiß nicht«, sagt sie. »Ich dachte an eine
Sekretärinnenschule.«
    »Mensch, Linda.«
    »Ich werde mir einen Job suchen müssen.«
    »Dann geh ins College, und du kriegst einen besseren Job.«
    »Vielleicht fehlt mir das Geld dazu.«
    »Es gibt Stipendien.«
    Sie möchte nicht darüber sprechen. Sie trägt die billigen Kleider,
eine rosafarbene Wolljacke, einen längeren, dazu passenden Wollrock und eine
von Eileens weißen Blusen. Das Haar hat sie jetzt in der Mitte gescheitelt und
läßt es zu beiden Seiten in Locken herabfallen. Es gefällt ihr, wie es ihr
Gesicht verdeckt, wenn sie sich vorbeugt.
    Thomas sieht aus dem Fenster am Fahrersitz und ist sauer auf sie.
»Du mußt diesen … Minderwertigkeitskomplex loswerden«, sagt er.
    Sie kratzt einen verkrusteten Fleck von ihrem Rock. Sie hat
Nylonstrümpfe an, aber ihre Füße sind eiskalt. Es gibt eine Menge Löcher in dem
Skylark, überall dringt die Kälte ein.
    »Thomas, wenn ich es dir sage, würdest du ganz anders über mich
denken«, antwortet sie.
    »Scheiß drauf.«
    Sie hat ihn nie solche Ausdrücke benutzen hören.
    Sie schweigt so lange, und er atmet so flach, daß sich der Belag auf
der Windschutzscheibe aufzulösen beginnt. Sie kann das Sommerhaus erkennen, das
etwa fünfzehn Meter vor ihnen steht. Es sieht verlassen und kalt aus. Sie würde
gern die Haustür öffnen, das Licht andrehen, Feuer machen und die Betten
aufschütteln. Einen Topf Suppe kochen. Ein Heim für sich haben.
    Wenn sie nur eine eigene Wohnung hätte, denkt sie.
    Sie schwitzt unter ihrem Pullover.
    »Ich hatte diesen Onkel«, beginnt sie genau in dem Moment, als
Thomas sich vorbeugt, um sie zu küssen. Sie drückt die

Weitere Kostenlose Bücher