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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Rücken zu den Jungen nimmt sie das Kopftuch ab
und zieht Mantel, Pullover und Rock aus. Im Slip taucht sie ins Wasser.
    Als Linda hochkommt, um nach Luft zu schnappen, sieht sie
Thomas, der auf der Mole kniet. Er hält einen Mantel in den Händen. Hinter
Thomas, inmitten der anderen Jungen, steht Eddie und hat die Arme um die Brust
geschlungen. Das Mädchen ist an seiner Stelle hineingesprungen.
    Sie stemmt sich auf die Mole hinauf, macht in der Luft eine schnelle
Drehung und kommt mit dem Rücken zu Thomas zum Sitzen. Sie duckt sich zusammen
in der Kälte. Thomas hüllt sie in den Wollmantel.
    »Donny, gib mir dein Hemd«, befiehlt er.
    Donny T. gehorcht, ohne einen Mucks von sich zu geben. Kurz darauf
spürt Linda, wie ihr mit einem Baumwollhemd über die Schulter gerubbelt wird.
    Sie benutzt das Hemd, um sich Gesicht und Haare abzutrocknen. Sie
zieht ihren Pullover und ihren Rock an, so gut sie das mit dem Rücken zu den
Jungen kann. Sie legt die Hand auf Thomas’ Schulter, um das Gleichgewicht zu
halten, während sie sich die Schuhe anzieht. Thomas hält ihr den Armeemantel
auf, und sie schlüpft hinein. Die Jungen sind absolut still.
    »Das Wasser ist wärmer als die Luft«, sagt Thomas zu ihnen, als
Linda und er die Mole verlassen.
    Linda und Thomas müssen schnell gehen, weil sie fröstelt.
    »Ich habe ein Auto«, sagt er. »Ich fahr dich heim.«
    »Nein«, sagt sie. »Ich wohne gleich gegenüber.«
    Sie befürchtet, einen nassen Fleck auf dem Sitz von Thomas’ Wagen zu
hinterlassen, was sie nicht will. Noch wichtiger ist, daß sie nicht will, daß
die Cousins Fragen stellen.
    Er begleitet sie über die Nantasket Avenue und den Boulevard
entlang. Ihr Pullover kratzt an den Armen, und im Gehen tropft Seewasser aus ihrem
Slip über ihre Waden und rinnt in ihre Socken.
    »Warum hast du das getan?« fragt Thomas.
    Sie kann das Klappern ihrer Zähne nicht kontrollieren. Thomas legt
fest den Arm um sie, damit sie zu zittern aufhört. Ein Beobachter hätte
vielleicht angenommen, dem Mädchen sei schlecht, es habe zuviel getrunken, und
der Junge bringe es nach Hause.
    Warum hat sie es getan? Das ist eine berechtigte Frage. Der
Theatralik wegen? Um etwas zu beweisen? Um die Gewöhnlichkeit ihres Namens zu
überwinden? Um sich zu reinigen?
    »Ich weiß nicht«, antwortet sie wahrheitsgemäß.
    Ihr Haar ist am Kopf angeklatscht, die ganze Mühe mit den
Lockenwicklern war umsonst. Sie sieht furchtbar aus, die Nase läuft vom
Meerwasser.
    Ihr Haar ist ihr ganzer Stolz, war es immer gewesen. Normalerweise
ist es dicht und lang, seine Farbe spielt in einen warmen Holzton. Im Heim für
mißratene Mädchen ließ sie es manchmal bis zur Taille wachsen, obwohl die
Schwestern sie immer zwangen, es zu Zöpfen geflochten zu tragen.
    »Ich fand es toll«, sagt er und reibt ihre Arme, um die Durchblutung
in Gang zu halten. Dann lacht er und schüttelt den Kopf. »Mein Gott«, sagt er,
»sie werden wochenlang darüber reden.«
    Thomas verläßt Linda am Ende der Straße.
    »Mir geht’s jetzt gut«, sagt sie und macht sich von ihm los.
    »Kann ich dich morgen anrufen?« fragt er.
    Sie denkt einen Moment nach. Noch nie hat sie jemand in der Wohnung
angerufen.
    »Es wäre besser, wenn ich dich treffen könnte«, sagt sie.
    »Hier?« fragt er. »Mittags?«
    »Ich versuch’s.«
    Sie rennt die Straße hinunter, obwohl ihre Glieder zittern und steif
sind, und sie weiß, daß sie unvorteilhaft aussieht. Als sie um die Ecke biegt,
kann sie nicht widerstehen, einen Blick zurück zu werfen. Er steht am selben
Fleck, an dem sie ihn verlassen hat. Er hebt die Hand und winkt.
    Ihre Tante steht im Gang, als sie die Wohnung betritt. Sie trägt
Lockenwickler und darüber ein Haarnetz: kleine goldene Kringel auf silbernen
Stengeln hinter Maschendraht. Normalerweise ist ihr Haar kraus, und manchmal
sieht Linda ihre Kopfhaut. Die Tante hat einen ausgeprägten Haarwirbel, den sie
mit Ponys zu verbergen sucht.
    Die Tante trägt einen rosafarbenen Seersucker-Bademantel und einen
Schlafanzug mit aufgedruckten Teekannen. Ihre einst rosafarbenen Slipper haben
braune Flecken. Die Augenbrauen der Tante sind nicht gezupft, aber sie hat
Spuren eines braunroten Lippenstifts auf dem Mund, als sei sie nicht sicher, ob
sie eitel ist oder nicht.
    Sie stehen auf zwei verschiedenen Seiten eines Abgrunds, jede möchte
etwas von der anderen.
    »Wo bist du gewesen?« fragt die Tante.
    »Ich bin ins Wasser gefallen«, sagt Linda und geht an ihr vorbei.
    Thomas holt

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