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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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und die Slipper.
    Als sie den Imbiß verlassen, sitzt Donny T. auf dem Rücksitz eines
blaßblauen Bonneville und zählt Geld.
    »Da ist dein Freund«, sagt Linda zu Thomas.
    »Ja«, antwortet Thomas. »Wahrscheinlich.«
    »Warum zählt er Geld?«
    »Das solltest du lieber nicht wissen.«
    Thomas fährt weiter am Strand entlang und parkt hinter einem
verlassenen Haus. Er greift auf den Rücksitz und nimmt ein Buch, das den
schlichten Titel Keats trägt. Linda beschließt, nicht
vorzugeben, bestimmte Gedichte zu mögen, wenn es nicht wirklich der Fall ist.
Thomas liest ihr mit seltsam volltönender und rauher Stimme vor.
    »Wenn ich befürchte, ich könnte nicht mehr
sein
Bevor meine Feder die reichen Früchte meines Denkens
Geerntet hat …«
    Während er liest, blickt sie auf den Weg, der durch das
Dünengras zur Rückseite eines mit Schindeln gedeckten graublauen Sommerhauses
führt. Es ist klein, hat nur ein Stockwerk und eine umlaufende Veranda mit
weißem Geländer. Sie sieht eine Hängematte und eine Fliegentür; alle Rollos
sind heruntergezogen. Das Haus hat einen Charme des Ärmlichen, der sie an die
Große Wirtschaftskrise denken läßt, über die sie in der Schule gelesen haben.
Tontöpfe mit verwelkten Geranien stehen an der Hintertür, unter einem Fenster
sind Rosen zu Hagebutten geworden.
    Wenn sie sich bemüht, kann sie eine dunkelhaarige Frau in einem
Kleid und einer Schürze sehen. Ein kleines Mädchen mit blondem Haar, das auf
der Veranda spielt. Einen Mann in weißem Hemd und Hosenträgern, einen steifen
Strohhut auf dem Kopf. Verwechselt sie ihren Vater mit Eugene O’Neill?
    »Du noch immer unberührte Braut der Stille,
Du Pflegekind des Schweigens und der ruhigen Zeit …«
    Auf einer Seite des Hauses sind zwei Pfähle in den Boden
gerammt. Zwischen den Pfählen hängt eine Leine mit hölzernen Wäscheklammern,
die jemand abzunehmen vergessen hat.
    »Jetzt mehr denn je scheint reif die Zeit zum
Sterben
Zu enden um die Mitternacht ganz ohne Schmerz …«
    »Sie war eine Hure, eine Prostituierte«, sagt Linda.
    »Sie hat ihre Vergangenheit bereut«, hält Thomas dagegen. »Sie ist
das christliche Symbol für Reue.«
    »Woher weißt du das alles?«
    »Ich habe darüber gelesen.«
    »Ich weiß kaum etwas von ihr«, sagt Linda, obwohl das nicht ganz
stimmt.
    »Sie war bei der Kreuzigung zugegen«, sagt er. »Sie war die erste,
die den Jüngern die Nachricht von der Auferstehung überbracht hat.«
    Linda zuckt mit den Achseln. »Wenn du es sagst.«
    Die Hausarbeiten über Keats und Wordsworth sind geschrieben. Der
Vergnügungspark hat geschlossen. Ein Hurrikan hat das Land heimgesucht und die
Sommerhäuser am Strand ins Meer gespült. Thomas hat Linda im Auto Prufrock und
Passagen aus dem Tod eines Handlungsreisenden vorgelesen.
Die Tante hat nachgegeben und in dem Warenhaus, in dem sie arbeitet, im
Ausverkauf etwas zum Anziehen für Linda besorgt. Nachdem Thomas sich abfällig
über die Frisur eines anderen Mädchens geäußert hat, toupiert Linda ihr Haar
nicht mehr. Sie sitzen auf einem Hügel und sehen auf den Atlantik hinaus.
    »Wir kennen uns jetzt genau einen Monat«, sagt Thomas.
    »Wirklich?« Sie tut überrascht, obwohl sie kurz vorher genau das
gleiche gedacht hatte.
    »Es kommt mir vor, als würde ich dich schon mein ganzes Leben lang
kennen«, sagt er.
    Sie schweigt. Das Licht auf dem Wasser ist außergewöhnlich schön –
so ergreifend wie einige Gedichte der vielen Lyriker, die ihr Thomas so gern
vorliest: Robert Lowell, Theodore Roethke, John Berryman, Randall Jarell. Nein,
schöner, denkt sie.
    »Findest du das manchmal auch?« fragt er.
    Der Sog, den das Licht auf dem Wasser ausübt, erscheint ihr wie eine
natürliche Anziehungskraft. Er schließt die besondere Bewegung der Wellen, den
Jungen in dem Parka und den Slippers neben ihr, den steilen gemähten Hang zu
den Felsen hinab und die ganze Weite in sich ein, den endlosen Blick von dort,
wo sich im Norden Boston scharf abzeichnet, bis hin zum Osten, wo ein Fischer
spät seine Reusen einzieht.
    »Ja«, sagt sie.
    Sie wünscht, sie wäre imstande, das Licht auf dem Wasser zu malen
oder es wenigstens in Worte fassen zu können, es einzufangen und in den Händen
zu halten, es in einer Flasche zu verschließen.
    »Du weinst ja«, sagt Thomas.
    Sie möchte abstreiten, daß sie weint, kann es aber nicht. Sie schluchzt
einmal schnell auf, wie ein Kind. Es wäre jetzt herrlich, die Tränen einfach
fließen zu lassen, denkt sie, aber es

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