Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
Vom Netzwerk:
Faust in die roten
Ledersitze.
    Seine Lippen suchen ihren Mund. Sie spürt seine schmale Oberlippe, seine
volle Unterlippe. Er legt die Hand an ihre Wange.
    Sie ist verlegen und sieht nach unten. Er folgt ihrem Blick und
sieht die geballten Fäuste.
    »Hab keine Angst vor mir«, sagt er.
    Langsam öffnet sie die Hände. Sie kann seinen Atem und den Schweiß
auf seiner Haut riechen, und beides ist so unverwechselbar wie ein
Fingerabdruck.
    Ihr zugewandt, sitzt er auf seinem Sitz, der Parka ist gegen das
Lenkrad gedrückt. Er preßt seinen Mund auf den ihren, sie spürt seine Finger
auf ihrem Schlüsselbein. Gegen ihren Willen zuckt sie zurück.
    Er nimmt die Hand weg.
    »Tut mir leid«, sagt sie.
    Er zieht ihren Kopf an seine Schulter.
    »Was ist mit deinem Onkel?« fragt Thomas.
    »Er ist tot«, antwortet sie.
    Dies alles wird sehr behutsam getan, Schritt für Schritt. So wie
ein ängstlicher Schwimmer ganz langsam in einen eisigen Ozean steigt, um sich
an die beißende Kälte zu gewöhnen. Linda hatte bisher keine Gelegenheit gehabt,
herauszufinden, wie schwierig es sein könnte; es war nicht notwendig, sich
körperliche Liebe vorzustellen. Ihr Geist schreckt nicht zurück, aber ihr
Körper tut es, als hätte er eigene Erinnerungen. Ein anderer Junge hätte sie
vielleicht ausgelacht oder sie als hoffnungslosen Fall aufgegeben, der die Mühe
nicht wert sei. Oder er hätte sie bedrängt, so daß sie die Zähne zusammenbeißen
und an etwas anderes hätte denken müssen, was die Lust für immer getötet hätte.
Aber Thomas drängt sie nicht.
    Eines Morgens im November sagt die Tante zu Linda: »Du mußt dir
einen Job suchen. Eileen arbeitet. Tommy und Michael arbeiten. Patty arbeitet.
Du willst dir neue Klamotten kaufen, also such dir einen Job.«
    Auf ihren Streifzügen durch die Stadt hat Linda mehrere
Arbeitsmöglichkeiten für sich entdeckt: in einem Discount-Schmuckladen, einem
Waschsalon, einer Bowling-Halle, einem Foto-Studio. Schließlich nimmt sie eine
Stelle als Bedienung in dem Schnellimbiß an. Sie trägt eine graue Uniform aus
Synthetikstoff, der knistert, wenn sie sich setzt. Das Kleid hat Ärmel mit
Manschetten, einen weißen Kragen und tiefe Taschen fürs Trinkgeld.
    An einem guten Abend geht sie mit fünfzehn Dollar Kleingeld heim,
und das kommt ihr wie ein Vermögen vor. Es gefällt ihr, mit den Händen in den
Taschen den Imbiß zu verlassen und das Geld zu fühlen.
    Linda ist eine gute Bedienung, sie hat eine schnelle
Auffassungsgabe, und sie ist tüchtig. Der Besitzer, ein Mann, der Alkohol aus
Saftgläsern trinkt, wenn er sich unbeobachtet glaubt, und der einmal versucht
hat, sie gegen den Kühlschrank zu drücken und zu küssen, sagt ihr in einem
seiner seltenen nüchternen Momente, daß sie die beste Bedienung sei, die er je
gehabt habe.
    Der Schnellimbiß ist ein beliebter Treffpunkt. Einige der Schüler
sind Stammgäste. Donny T. sitzt jeden Tag in derselben Nische, wo er richtig
Hof hält. Er scheint auch ein gutes Gedächtnis zu haben.
    »Unsere olympische Hoffnung«, sagt er, als Linda ihren Block
herauszieht. Er hat einen Schlafzimmerblick, ein schlaues Grinsen, und ohne
seine gelben Zähne wäre er vielleicht sogar ganz attraktiv.
    »Ein Cherry-Cola und Fritten«, sagt Eddie Merullo. Er ist dünn und
blond und versinkt fast in seiner Lederjacke, die das genaue Gegenstück zu der
von Donny T. ist, wie sie feststellt.
    »Wie oft springst du heute rein?« sagt Donny T. zu Linda und
unterdrückt ein Kichern.
    »Laß sie in Ruhe«, zischt Eddie.
    Donny T. dreht sich herum. »Hey, du Pfeife, wenn ich deinen Rat
brauch, dann frag ich dich.«
    »Möchtest du was essen?« fragt Linda gleichmütig.
    »Bloß dich«, sagt Donny T. Er hebt in gespielter Abwehr die Hände. » WAR BLOSS EIN SCHERZ. BLOSS EIN SCHERZ .« Er lacht,
ungehemmt wiehernd. »Zwei Cheeseburger. Fritten. Schoko-Milchshake. Und bring
mir nicht so ein dünnes Gesöff. Ich hab ihn gern mit viel Eiscreme.«
    Linda sieht an Donny T. vorbei zum nächsten Tisch, wo ein Mann
Schwierigkeiten mit seiner Brieftasche hat: Jedesmal, wenn er sie zumachen
will, springt eine der Laschen wieder auf. Linda beobachtet, wie er ein halbes
Dutzend Mal mit der Lasche herumfummelt, bis er offensichtlich aufgibt und die
Brieftasche auf einen Stuhl legt. Er kommt ihr irgendwie bekannt vor. Er ist
etwa zweiundzwanzig oder dreiundzwanzig, und er sieht gut aus in seinem Jackett
und mit der Krawatte. Sie fragt sich, womit er wohl seinen

Weitere Kostenlose Bücher