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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Regeln nicht. Manchmal kriegt sie erst mit, daß ein Tor
gefallen ist, wenn sie den Aufschrei der Menge hört.
    An diesem Abend kommt es unvermeidlich zu einer Schlägerei. Wegen
eines absichtlichen Fouls landet Thomas mit gespreizten Beinen auf dem Eis und
wirbelt auf dem Bauch im Kreis herum. Flink wie eine Spinne zieht er seine
Gliedmaßen ein, ist im Nu wieder auf den Beinen, rammt die Spitzen seiner
Schlittschuhe ins Eis und geht auf den Spieler los, der das Foul begangen hat.
Linda, die in einer von Nonnen geleiteten Mädchenschule aufgewachsen ist, hat
nie zuvor körperliche Auseinandersetzungen gesehen. Sie kennt keine Schläge,
weder das Zurückprallen von Gliedern noch das Zerren an Trikots, noch die
tückischen Tritte. Der Kampf dauert nur Sekunden, aber die Szene beschwört
vergangene Jahrhunderte herauf und kommt ihr wie ein Gefecht unter Gladiatoren
vor. Achselzuckend läßt Thomas den Schiedsrichter stehen und begibt sich mit
dem Helm unterm Arm und starr nach oben stehendem Haar auf die Strafbank.
Direkt vor der Drahtumzäunung stoppt er elegant und nimmt seine Strafe als
angemessen hin.
    Ohne Reue. Ohne die geringste Reue.
    Am Morgen des Weihnachtstags schafft es Linda nicht, Thomas wie
geplant am Ende der Straße zu treffen. Eileen, die über die Feiertage aus New
York gekommen ist, tritt in dem Moment zur Tür herein, als Linda gehen will,
und sie bringt es nicht über sich, sie stehenzulassen, vor allem deswegen nicht,
weil Eileen offensichtlich in erster Linie wegen Linda gekommen ist. Obwohl sie
in Wirklichkeit Fremde füreinander sind. Linda hat darauf geachtet, an diesem
Tag nichts zu tragen, was einmal Eileen gehört hat (weil sie kein jüngeres
Abziehbild der älteren Cousine sein möchte). Sie hat Kleider angezogen, die sie
sich von ihren Trinkgeldern gekauft hat: einen schmalen grauen Wollrock und
eine schwarze Wolljacke, deren Ärmel hochgekrempelt sind. Außerdem spart sie
auf ein Paar Lederstiefel.
    Linda hätte sich keine Sorgen zu machen brauchen. Eileen trägt
Batikgewänder direkt aus Greenwich Village, wo sie jetzt wohnt. Sie trägt
keinen BH und hat lange Lederstiefel, genau die
gleichen, die Linda haben möchte. Um ihren Hals hängen Perlenketten, und auf
ihrem Gesicht liegt keine Spur von Make-up. Linda, die sich für den Festtag das
Haar in Locken gedreht hat, mustert ihre Cousine aufmerksam, nachdem sie sich
umarmt haben.
    Im verschwiegenen Rahmen des Mädchenzimmers erzählt Eileen von
»Headshops« und erotischer Massage. Von einer Band namens The Mamas and Papas.
Von Haschisch-Plätzchen und einem Job bei einem Projekt namens »Upward Bound«.
Sie hat einen Freund, der bei einer Blues-Band Harmonica spielt, und ihr
gefällt die Musik von Sonny und Cher. Sie erklärt, warum Frauen keine
Wimperntusche benutzen sollten, warum Frisuren eine politische Aussage sind und
warum Linda, Patty und Erin keine BH s tragen
sollten.
    »Schäm dich nicht wegen deiner Vergangenheit«, sagt Eileen zu Linda,
nachdem die anderen aus dem Zimmer gegangen sind. »Es war dein Körper, der
gehandelt hat, und du solltest dich deines Körpers nicht schämen.«
    Linda schätzt die Freundlichkeit, die sich in dem Ratschlag
ausdrückt, ist aber ziemlich besorgt darüber, was Eileen zu wissen glaubt.
    Während des Weihnachtsessens kommt Jack von der Wohnungstür
zurückgelaufen, um zu verkünden, daß Linda Besuch habe. Sie erstarrt auf ihrem
Stuhl am Küchentisch und weiß, wer es ist.
    »Du solltest dich um deinen Besuch kümmern«, sagt die Tante nach
einer Weile.
    Thomas steht vor der Tür und hält ein kleines Päckchen in der Hand.
Das Päckchen ist ungeschickt mit Tesafilm zusammengeklebt. Er hat seinen Mantel
an, der Kragen ist hochgeschlagen, und seine Ohren sind rot von der Kälte.
    Sie ist verlegen, weil sie nichts für ihn hat.
    »Ich konnte nicht weg«, sagt sie. »Eileen ist gerade angekommen.«
    Er sieht dennoch verletzt aus. Noch nie hat sie ihn verletzt
gesehen, und daß gerade sie schuld daran ist, schnürt ihr die Brust zusammen.
    Er überreicht ihr das Päckchen. »Das ist für dich«, sagt er.
    Verlegenheit und Reue lassen sie ihre Manieren vergessen. Sie öffnet
das Päckchen im Flur, während er, die Hände in die Taschen gesteckt, linkisch
vor ihr steht. Wegen des Tesafilms dauert es eine Ewigkeit, bis sie das
Geschenk ausgepackt hat. Im Innern liegt ein goldenes Kreuz mit einem Diamanten
in der Mitte. Ein goldenes Kreuz an einer Kette. Auf einem Zettel steht:

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