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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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gehen konnte. Beim
Betrachten von Gesichtern fragte sie sich, ob Leute, an denen sie vorbeiging,
Überlebende großer Katastrophen waren, obwohl sie es beschämend fand, wenn auch
nur in Gedanken, endlos über persönliches Leid nachzugrübeln, wo doch so viele
tatsächlich litten. (Beschämender noch, da diese Nachrichten aus Entebbe oder
über Aufstände in Ghettos nur für Momente Leid ins Blickfeld rückten und man
anschließend wieder auf sich selbst zurückgeworfen wurde. Manchmal machten
Nachrichten von Kriegen, ob im In- oder Ausland, das Leiden nur noch schlimmer:
Schließlich sehnte man sich nach jemandem, mit dem man diese Bulletins aus der
Hölle teilen konnte.)
    Eines Tages im September – mehr als ein Jahr des Herumwanderns war
vergangen – betrat Linda ein Café, in dem, parallel zu einer Theke mit
Süßigkeitenvitrine, Holztische aufgestellt waren. Sie bestellte Kaffee und
Erdnußbutterplätzchen, das Mittagessen hatte sie auf ihrer Wanderung verpaßt,
und brachte beides an ihren Tisch, wo sie Unterlagen für ihre
Stundenvorbereitung ausgebreitet hatte. Es half ihr über die Langeweile des
Jobs hinweg, in einem Café zu arbeiten, und eine Zeitlang vertiefte sie sich in
die Erläuterungen zu Ethan Frome und der Glasmenagerie. Draußen hatte die Sonne die Mauern erwärmt,
aber nicht die Menschen, die sich in Erwartung des Winters mit hochgezogenen
Schultern in ihre Jacken hüllten. Geräusche aus einer Ecke zogen ihre
Aufmerksamkeit an, und sie ließ sich bereitwillig ablenken. Kaum zu glauben:
Eine Frau hatte für ihre beiden Pudel Kindersitze auf Stühle gestellt, um die
Tiere mit teuren Makronenstückchen aus der Glasvitrine zu füttern. Sie redete
mit ihren Lieblingen wie eine Mutter mit ihrem Baby, wischte ihnen mit einem
Spitzentaschentuch die Schnauze ab und tadelte einen der Hunde, weil er gierig
war.
    Ungläubig beobachtete Linda die Szene.
    »Sie wird die Asche von den beiden in einer Keksdose aufbewahren«,
sagte eine Stimme hinter ihr.
    Linda drehte sich um und sah einen Mann mit lebhaften Zügen und
buschigen Augenbrauen. Ein leicht sarkastischer Ausdruck lag auf seinem
Gesicht. Ein unbändiges Lachen brach aus ihr hervor, in dem sich die Monate von
Trauer und Frust Luft machten. Ein Stapel Papiere fiel vom Tisch, und sie
versuchte, ihn aufzufangen. Hilflos legte sie die Hand auf die Brust.
    Sie stellten sich einander vor, und ihr gewaltiges Lachen verebbte
in kleinen Glucksern, die sie nicht kontrollieren konnte. Das Lachen selbst war
ansteckend, und der Mann gluckste ebenfalls von Zeit zu Zeit. Sie legte die
Hand auf den Mund, und das Mädchen hinter der Theke sagte: »Was ist denn so
komisch?« Einer von ihnen setzte sich mit an den Tisch des anderen (später
stritten sie sich darüber, wer), und Vincent sagte mit Bezug auf das
hemmungslose Lachen: »Das haben Sie gebraucht …«
    Er hatte große braune Augen und glatte Haut, gebräunt vom Sport oder
von einer Fernreise. Sein Haar glänzte wie das Fell eines gesunden Tieres.
    Beim Herumdrehen stieß ihr Fuß gegen das Tischbein, und Kaffee
schwappte auf seine polierten Schuhe. Sie beugte sich hinunter, um die
Flüssigkeit mit einer Papierserviette abzuwischen.
    »Vorsicht«, sagte er. »Ich bin leicht erregbar.«
    Sie sah auf und lächelte. Ganz einfach so. Und spürte, wie sie
endlich von einer kleineren Welle ergriffen wurde.
    All das erzählte sie Thomas auf der Fähre zu einer Insel im See.
    »Er war gut zu dir?«
    »Sehr. Ich kann mir nicht vorstellen, was passiert wäre, was aus mir
geworden wäre.«
    »Meinetwegen.«
    »Nun. Ja. Auch meinetwegen.«
    »Ich habe in Cambridge gelebt«, sagte er. »In der Irving Street.
Jahre später allerdings.«
    »Das wußte ich nicht.«
    Sie fragte sich, wie oft sie durch diese Straße gegangen war, in
welchem Haus er gewohnt hatte. Sie lehnte sich gegen ein Schott und
beobachtete, wie der nördliche Teil der Stadt verschwand. Wind peitschte ihr
Haar, das ihr die Sicht nahm, und sie schüttelte es sich aus der Stirn. Sie
trug, wie fast jeden Tag, an dem nichts Eleganteres gefordert war, eine weiße
Bluse und Jeans. Und heute den Regenmantel, der wegen des Windes geschlossen
war. Thomas hatte noch immer seinen marineblauen Blazer an, als hätte er darin
geschlafen. Schon bevor sie aufgewacht war, hatte er angerufen, aus Angst,
sagte er, sie würde tagsüber ausgehen, und er könnte sie nicht erreichen. Mutig
fragte sie ihn, warum er nicht zu ihrer Lesung gekommen sei.
    »Es war zermürbend, dich

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