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Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition)

Titel: Der weiße Klang der Wellen: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anita Shreve
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Badewanne auf einem Podest stand (ein erhabener Ort für
Opferrituale). Sie besaß zusammenpassendes Porzellan und teures Kristall von
einem anderen tödlichen Ritual und der darauffolgenden Ehe, die von innen nach
außen korrodiert war, wie sich unter der glänzenden Lackschicht eines Autos
langsam Rost bildet. (Obwohl sie dieses Auto schließlich zuschanden gefahren
hatte.) Das Geschirr hatte sie in ein Fach im Küchenschrank gestellt, wo es
verstaubte, ein stummes Relikt der einstigen Erwartungen. Wenn überhaupt, aß
sie von einem Plastikteller, den sie bei Lechmere’s gekauft hatte, einem
Teller, der sie an nichts erinnerte, den kein Liebhaber oder Ehemann je berührt
hatte. Am Morgen, als die Schule wieder begann, stand Linda an der Tür, nahm
ein Instant-Frühstück zu sich und freute sich darüber, daß man vieles in so
kurzer Zeit erledigen konnte. Sie ging in ihrem Minirock und ihren Stiefeln
hinaus (ungeheuerlich, sich vorzustellen, in diesem Aufzug vor siebzehnjährige
Jungen zu treten), stieg in ihren Wagen und tauchte in den Verkehr ein, der sie
zu einer High-School nördlich der Stadt führte. In der Abgeschiedenheit, die
nur das Innere eines Wagens zu bieten hat, weinte sie über ihren anhaltenden
und schier unersetzlichen Verlust. Oft mußte sie im Rückspiegel ihr Gesicht
wieder in Ordnung bringen, bevor sie das Klassenzimmer betrat.
    In den Ferien ging sie nach Hull, als beträte sie ein Minenfeld –
voller Angst am Anfang, stumm vor Dankbarkeit, wenn die Fahrt hinter ihr lag.
Und manchmal gelang ihr das nicht. Wider besseres Wissen fuhr sie manchmal an
Thomas’ Familienwohnsitz vorbei – in den Anfangsjahren, um einen Blick auf den
Skylark zu werfen, und später, um sich vorzustellen, welcher Wagen ihm gehörte
(der VW ? der Fiat? der Volvo?), denn genauso wie
sie, mußte er während der Ferien nach Hause zurückkehren. Aber so sehr sie sich
davor fürchtete, oder insgeheim darauf hoffte, sie trafen sich nie zufällig,
nicht einmal im Schnellimbiß oder an der Tankstelle. (Wenn sie sich vorstellte,
wie sehr sie zittern würde, wenn sie auf den Parkplatz des Schnellimbisses
einböge, kaum in der Lage zu atmen vor Aufregung.)
    Um Männer abzuhalten, die allgegenwärtig zu sein schienen, selbst an
dieser hauptsächlich weiblichen Fakultät, gab sie vor, verheiratet zu sein (der
Einfachheit halber mit einem Jurastudenten, der kaum je zu Hause war). Es war
ein Leben, das sie sich gut vorstellen und in allen Einzelheiten sofort wieder
vor sich erstehen lassen konnte: den fiktiven (einst sehr realen) Ehemann, der
nach einem aufreibenden Arbeitstag im Gericht nach Hause kam; eine wilde Party
am Wochenende, bei der ihr Mann von Bourbon und Cidre todkrank geworden war;
ein Geschenk, das für die Hochzeit eines Kollegen besorgt werden mußte.
Cambridge bedeutete, diese Lügen zurückzulassen und wieder in stille Zimmer zu
kommen, wo es Zeit und Raum für Erinnerung gab, und dieser Raum und diese Zeit
waren anscheinend genauso notwendig wie das Valium, das sie in der Hausapotheke
griffbereit hielt (das Valium – ein unerwarteter Segen nach dem Aufenthalt in
der Notaufnahme).
    Sie war eine gute Lehrerin, und manchmal fanden das auch andere ( Mir wurde das von Ihren Klassen gesagt; Sie sind meine
Lieblingslehrerin ), aber es schien dennoch ein verkümmertes Leben zu
sein. Wahrscheinlich gab es Ereignisse, die ihr Denken geprägt hatten. Später
erinnerte sie sich, daß sie einen Monat lang Marxistin gewesen war und daß es
einen politisch engagierten und beharrlichen Mann gegeben hatte, mit dem sie in
einem Kellerraum geschlafen und eine Vorliebe für Marihuana entwickelt hatte,
die erst nach Marias Geburt wieder vergangen war. Eine Zeitlang hortete sie
eine umfangreiche Sammlung von Ölgemälden in einer Holzkiste, die Erinnerung an
einen Versuch, sich der Malerei zu widmen. Seltsamerweise versuchte sie sich
nicht im Schreiben, aus Angst, einen Brand zu entfachen, als wäre das Papier
selbst entflammbar.
    Meistens aber wanderte sie allein umher, die Massachusetts Avenue
hinunter und auf die Irving Street. Die Charles Street entlang und zum Porter
Square. An Samstagen ging sie nach Somerville oder zum Fenway. Sie hatte kein
Ziel, der Weg war das Ziel, und manchmal, wenn es sehr schlimm war, zählte sie
rhythmisch, was für sie dem Singen eines Mantras am nächsten kam. Was sie am
meisten beeindruckte, war die Dauerhaftigkeit des Leidens: Es schien
unglaublich, daß einem der Verlust eines Menschen so nahe

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